Zerstückelung fügt sich. Eine Heilung. Bericht an eine Akademie

von Ellen Wesemüller

Oktober

Ich bewohne die Dachetage eines Hauses aus dem 17. Jahrhundert, ein alter Kolonialwarenladen, so sagte man mir, so stand es irgendwo. Ich weiß nicht, was ein Kolonialwarenladen ist. Nicht so genau. Irgendetwas aus dem letzten Jahrhundert, denke ich, Kaffee, Zucker, Tabak und so weiter. Auf Wikipedia steht, dass man statt „Kolonialwaren“ heute vielleicht besser „außereuropäische Güter“ sagt. Ich weiß nicht, warum das besser ist.

In einem Buch über Wewelsfleth, das unten in der Küche auf der Anrichte liegt und das in seinem Cross-Genre-Stil aus Augenzeugenberichten, Autoren-Meinung, Dorfchronik und wissenschaftlicher Zitierweise jener avantgardistischen Literatur, die hier von mir entstehen soll, in nichts nachsteht, lese ich, dass es ursprünglich auch kein Kolonialwarenladen war, dessen Dachgeschoss ich bewohne, wie ihn Günter Grass' Eltern in Danzig besessen hatten und den er deshalb, so hörte ich es, so sagte man mir, auch aus nostalgischen Gründen gekauft haben könnte (das heißt: Nostalgie über die Kindheit, nicht über die Kolonien)1.

Das Haus war vielmehr ursprünglich eine Kirchspielvogtei. Ich weiß natürlich erstrecht nicht, was eine Kirchspielvogtei ist. Eine Art Bürgermeisterhaus, so las ich in dem Buch, das in der Küche liegt. Da, wo das steht, steht auch noch: „mit zweimal vorkragendem, verbrettertem Giebel und beschnitzter Oberlichthaustür“. Was für besondere, was für schöne Worte. Man müsste nur Ahnung von irgendetwas haben, denke ich. Von irgendetwas mit Bedeutung. Einem Handwerk zum Beispiel. Der Natur. Dann kämen die Worte von ganz von allein. Nicht aus irgendeiner Spielerei heraus müsste ich sie aus mir hervorpulen, nicht aus irgendeinem Pflichtgefühl einer Wahrheit oder, noch schlimmer, einer Ästhetik gegenüber - sie kämen vielmehr einfach aus mir heraus: weil ich sie eben bräuchte.

Ob ich ihnen helfen könne, frage ich – so hilfsbereit, wie ich mir eine gut integrierte Dorfperson nur vorstelle – ein Paar, das durch die Scheibe in die ehemalige Kirchspielvogtei guckt. Ob ich ihnen irgendetwas zu dem Haus erklären solle.

Der Mann dreht sich um und sagt: Nee, wohl eher andersrum. Dann lacht er und seine Frau lacht auch. Seiner Tante, sagt er, habe der Laden gehört.

Das war ja mal ein Kolonialwarenladen, sage ich.

Heute sagt man wohl besser Tante-Emma-Laden, sagt er. Aber Danke trotzdem.

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Also. Das war so. A hat gesagt, dass sie hier für alles zuständig sei, nur anrufen müsse man sie, und nicht nichts sagen und dann hintenrum bei BERLIN beschweren. Dann hat A noch gesagt, dass man auf B treffen werde, und dass B hier der Gärtner sei.

B hat gesagt, dass er hier nicht nur der Gärtner sei, sondern quasi für alles zuständig. Am nächsten Tag hat B dann aber mal seinen Arbeitsvertrag mitgebracht, in einer Klarsichtfolie, die Gehaltszahl mit einem weißen Stück Papier abgedeckt, wo alles aufgelistet stand und von BERLIN unterschrieben war und woraus hervorging, dass er neben dem Garten auch noch für -den Strom, -den Boiler, -die Heizung, -den Abfluss, -die Alarmanlagen, -die Feuermelder, -die Müllabfuhr und -das Einsammeln der Walnüsse2 zuständig sei. Wer das denn gesagt hätte, das mit dem Garten.

Unabhängig davon wollte B sagen, dass die A erst ganz neu hier sei, dass sie noch nicht so viel Ahnung habe. Dass alles besser gewesen wäre, als die C noch da war. Die sei dann ja leider urplötzlich an Krebs verstorben.

Dass der die C noch mal vermisst, hätt' ich ja nicht gedacht, sagt D von gegenüber. Als sie noch lebte, habe die Frau von B immer BERLIN angerufen und gefragt, ob das denn alles mit rechten Dingen zugehe, dass ihr Mann B unter der Frau C arbeite, das gehöre doch andersrum: C unter B, wie das denn angehen könne. Aber es war alles in bester Ordnung, so wie es war, B unter C und neuerdings eben B unter A.

D will an diesem Abend noch weiterziehen. Er will E die Kneipe „Ebbe und Flut“ zeigen, aber dann ziehen sie noch weiter, weil D im Fenster von F hat Licht brennen sehen. Da hat D an die Scheibe geklopft und dann sind sie eingetreten. Sie haben viel Wein getrunken und gelacht. F hat viele interessante Sachen erzählt. Er sei schon vor vielen Jahren mit GG hierhergezogen, in den Siebzigern, und beide hätten jeweils ein Haus gekauft, in dem einen, da würde ja jetzt E leben, in dem anderen er selbst, also F. Wie sie denn GG finde, fragt F E und fügt hinzu: Man müsse ja besonders GGs Lesungen einmal miterlebt haben, das sei ein ganz eigenes Erlebnis. E findet F's Freund GG nicht so toll, erstrecht nicht seine Lesungen, aber das behält sie für sich.

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5. Oktober 2012. EU-Stresstest bestätigt hohes Sicherheitsniveau des Kernkraftwerks Brokdorf. Die vereinzelt in den Medien aufgestellte Behauptung, das Kernkraftwerk Brokdorf habe den Stresstest nicht bestanden, ist schlichtweg falsch. Eine derartige Fehlinterpretation der gestern von der EU-Kommission vorgestellten Ergebnisse aus dem EU-Stresstest können wir nicht unkommentiert lassen. Die Untersuchungen im Rahmen des EU-Stresstests haben in erster Linie gezeigt, dass das Kernkraftwerk Brokdorf bei allen unterstellten Szenarien über große Sicherheitsreserven verfügt. Das Kernkraftwerk Brokdorf weist weder Mängel noch Sicherheitslücken mit Blick auf die Erdbebensicherheit auf. Es ist – wie alle deutschen Kernkraftwerke – gegen das 100.000-jährliche Erdbeben ausgelegt.

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Ich bin in einer großen Stadt geboren und als ich groß genug war, bin ich in eine größere Stadt gezogen. Zwischendurch habe ich in noch viel größeren Städten auf anderen Kontinenten gelebt. Ich habe noch nie für längere Zeit auf dem Land gewohnt. Folglich kenne ich mich nicht mit Sirenen-Signalen aus.

Früher, als ich noch klein war, gab es in der großen Stadt Bombenalarmübungen. Die hatten dann irgendwann aufgehört, sie waren vielmehr heimlich und leise ausgeklungen, und sie waren sowieso nur zu hören gewesen, um zu sehen, ob die Alarmsirenen noch funktionierten oder ob sie schon eingerostet seien, so hatte es die Mutter gesagt. Es gäbe keinen Krieg, hatte die Mutter gesagt, jedenfalls jetzt noch nicht, hatte sie hinzugefügt, aber es wäre schon sehr wahrscheinlich, dass es irgendwann - in einer nicht allzu fernen Zukunft - wieder einmal einen Krieg geben würde, weil es schon sehr lange keinen mehr gegeben hatte, und das wäre statistisch gesehen einfach sehr wahrscheinlich, dass ich noch einmal einen Krieg erleben würde – glücklicher Weise hatte ich eine Mutter, die sich vorgenommen hatte, immer ehrlich mit ihren Kindern zu sein.

Hier aber höre ich sie wieder, die Sirenen-Signale. Für Feuer. Oder für Brokdorf. Und beides gibt es. Und bei dem einen Signal ist die Freiwillige Feuerwehr gemeint und bei dem anderen die Freiwillige Feuerwehr und außerdem noch ich. Ich weiß nicht bei welchem. Auch dass die Freiwillige Feuerwehr gemeint ist, weiß ich erst später. In Berlin haben die irgendwie Telefone. Jedenfalls schrecke ich nachts um 5 Uhr hoch, weil ich die Sirenen-Signale höre, und fühle mich extrem gemeint. Ich denke: Das ist aber ganz schön laut. Ich bin davon aufgewacht, so laut ist es. Ich soll anscheinend davon aufwachen. Warum? Ich soll wach sein. Gut, das bin ich jetzt. Und nun? Was jetzt? Was tut man, wenn man nachts um 5 Uhr von einem Sirenen-Signal aufgeweckt wird, das irgendwen meint, nur unklar, wen, das irgendwas aussagen will, nur unklar was.

Im Internet nachschauen. Brokdorf + GAU. Aber so schnell ist selbst das Internet nicht. Mal gucken, was die Nachbarn machen. Die ziehen sich an. Aber was heißt das schon. Vielleicht fahren sie ja auch einfach nur extrem früh auf Arbeit. Schauen, in welche Richtung die Feuerwehrautos fahren. Joahh, das ist schon die Brokdorf-Richtung. Nach eingehender, sich widersprechender Recherche einige ich mich mit mir selbst darauf, dass das Internet sagt, das Feuersignal gehe so:

und das GAU-Signal gehe so:

Und unser Signal gleicht, wenn man jetzt mal ganz ehrlich zu sich ist: dem zweiten. Im Internet steht, man solle jetzt besser das Radio einschalten. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ein Radio eingeschaltet habe. Und wo es hier ein Radio gibt. Unten in der Küche gibt es eine Stereoanlage, aber die funktioniert nicht. Da liegt nur eine CD daneben, die heißt: „Als ich 32 Jahre alt war, wurde ich berühmt. Günter Grass“. Unser Signal gleicht also einem Katastrophenalarm, allerdings gibt es bestimmt auch für einen GAU Übungen, versuche ich mich zu beruhigen. Erst als sich die ersten Kinder an die Bushaltestelle schleppen, um zur Schule zu fahren, kehre ich dem Fenster den Rücken zu und gehe wieder ins Bett. Eltern würden ja jetzt nicht ihre Kinder auf die Straße schicken, wenn da ein GAU in der Luft wäre.

Später frage ich bei ein paar Dorfbewohnerinnen nach. Sie sagen, sie gingen eigentlich immer davon aus, dass es eine Übung sei, und blieben liegen.

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Ich kenne mich nicht nur nicht mit Sirenen-Signalen aus, ich kenne mich auch nicht mit der Natur aus. Meine Mutter war Naturkundelehrerin, aber leider nicht meine. Dafür war sie Naturkundelehrerin von meiner ältesten Freundin und immer, wenn ich etwas über die Natur nicht weiß, sie aber schon, sagt sie: Das hat mir deine Mutter beigebracht.

Dann werde ich ein bisschen neidisch auf meine Freundin, aber auch ein bisschen stolz auf meine Mutter und denke: Was für eine emanzipierte Mutter ich hatte, die eben dafür zuständig war, gegen Geld anderen Kindern etwas beizubringen. Mit dem Geld hat meine Mutter dann eine Frau bezahlt, die mir auch etwas erklärt hat, während meine Mutter nicht zu Hause war, weil sie anderen Kindern gegen Geld etwas erklären musste, und diese Frau wusste auch sehr viel, zum Beispiel, dass ein Mädchen seinen Rock nicht hochhebt, wenn andere Leute dabei sind, oder dass ich ein gutes und ein schlechtes Händchen habe, und dass man den Teller aufessen muss, damit das Wetter gut wird, und dass damit nicht gemeint ist, dass man den Teller aufessen muss. Über die Natur aber wusste sie, außer der Sache mit dem Wetter, leider auch nicht so viel.

In Wewelsfleth fliegen nun aber zum Beispiel sehr viele Vögel hinweg und irgendwer sagt, das sind Graugänse. Ich beschließe, Naturgeräusche mit meinem iPhone aufzunehmen und mich darüber zu informieren. Das Internet, der alte Fuchs, sagt unter dem Stichwort „Graugänse“:

bekanntester Laut ist das auch von Hausgänsen bekannte „ga-ga-ga“.

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Ich träume sehr viel im Alfred-Döblin-Haus. Meine Träume schreibe ich auf. Wenn ich immer alle meine Träume aufschreiben würde, würde ich ja zu gar nichts mehr kommen, sagt H. Das stimmt, denke ich, ich komme zu nichts.

In meinem Traum steige ich von einem Ort ganz hoch oben in den Bergen, an dem ich als Schriftstellerin residiere, ins Tal. Es ist schon spät am Nachmittag und ich sage mir, ich müsse ja nicht den ganzen Weg gehen, damit es nicht schon dunkel sei, wenn ich heimkehren müsste. Doch ich werde immer müder und irgendwann merke ich, dass ich schlafend weitergegangen bin. Als ich die Augen öffne, bin ich an einer Kehre, die schon viel zu weit weg liegt. Ich kenne mich aber zum Glück noch aus. Ich drehe mich um, aber ich bin weiterhin so müde, dass meine Augen immer und immer wieder zufallen. Ich werde panisch. Am Fußende der Steigung angekommen, habe ich den guten Einfall, per Anhalter weiter zu kommen. Eine Frau aus dem Dorf hält an, mit ihrem Kind auf dem Rücksitz, und lässt mich einstiegen. Sie müsse noch Einkäufe erledigen, teilt sie mir mit. Da hält eine weitere Frau aus dem Dorf an, ich wechsele in ihr Auto, da ist die erste sauer.

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Eine weißgrauer Kokon schlängelt sich vom Ufer in den Fluss. Seine Haut ist dünn, papieren fast, aus feiner Wolle gesponnen. Er leuchtet. Zwei-, dreihundert helle Lichter flackern aus seinem Innern in den schwarzen Himmel, wenn der Mond schon weit über ihm steht.

Der Kokon schreit. Ganz zaghafte Geräusche, wenn man weiter weg steht. Spielplatzgeräusche, wie das Aufschlagen einer Wippe auf Sand, wie das Quietschen der rostigen Ketten einer Schaukel.

Zwei Männer in blauen Latzhosen biegen jeden Tag um 12 Uhr in die Dorfstraße ein und um 12.38 Uhr wieder aus ihr ab, in den Kokon. Der eine Mann hat eine schwarzweiß gestrickte Wollmütze auf, der andere ein rosa Cap mit silbernen Pailletten. Bevor sie in der Kurve die Straßenseite wechseln, drehen sie sich um, um nach den Autos zu schauen, die die Landstraße entlang rasen, dabei fällt ihr Blick jeden Tag auf den dritten Mann, der schlappt hinterher. Der erste Mann schnippt eine Zigarette weg, bevor er seinen Ausweis ans Tor hält. Der andere Mann findet, dass der erste nicht auch noch rauchen solle. Es sei ja nun wahrlich genug Rauch auf der Arbeit.

Im Inneren des Kokons ist der Lärm nicht leise, da ist er ohrenbetäubend laut. Die Männer setzen sich keine Ohrenschützer auf. Der mit der schwarzweißen Wollmütze hat sich nun ein bunt gepunktetes Tuch um dem Kopf gebunden, als Schutz für seine Haare, darauf hat er eine Maske gezogen, als Schutz für seine Augen.

Es ist sehr schön da in dem Rumpf der Raupe, die wächst, jeden Tag ein Stück, mit dem, was sie beherbergt. Es ist dunkel und familiär in dem rostbraunen Schiffsbug und überall kleben Schilder an den ausgefrästen Türen. Da steht dann „Küche“ und „Wäscherei“, und das stimmt natürlich nicht. Nur, weil da irgendwo „Küche“ dran steht, heißt es ja nicht, dass da eine Küche drin ist. Aber wer sagt das schon, ab wann etwas etwas ist, vielleicht reicht es ja auch, dass es da steht. Eine Wohnung.

Die drei Männer haben ihre Familien verlassen, sie kommen aus Polen und aus Rumänien, um hier jeden Tag zu arbeiten. Jeden Tag, morgens, mittags, abends, Samstags auch. Auf dem Nachhauseweg gehen sie am Supermarkt vorbei, an dem teuren, und gehen hinein, in den billigen, und kaufen Schnaps. Dann gehen sie zu den Wewelsflether Familien, die ihrerseits verlassen worden sind von ihren Mitgliedern, die jetzt woanders Geld verdienen. So haben diese Familien hier jetzt ein Zimmer frei oder auch zwei oder drei. Ein Zimmer im Dorf kostet 250 Euro. Das zahlt die Firma, aber das zieht sie vom Lohn ab.

Die meisten Arbeiter gehen deshalb nach der Arbeit nicht die Dorfstraße entlang. Sie holt ein Reisebus ab, da sind Sternchen drauf, rote, grüne und gelbe, da steht „Holiday Reisen International“ und damit fahren sie nach Glückstadt, denn da ist es billiger mit dem Wohnen.

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Ich träume, dass ich bei einer Hochzeit eingeladen bin. Die Braut ist tot, aber das darf niemand wissen.

November

Ich soll für die Zeitung interviewt werden. Bevor wir uns treffen, um mich zu interviewen, treffen wir uns auf n Tass Kaff, um darüber zu reden, wann wir uns treffen können, um mich zu interviewen.

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Der Film, den der Mann, auf dessen Visitenkarte „Production Manager“ steht, zeigt, ist strenggenommen kein Film. Es sind aneinandergereihte und überblendete Fotos von Arbeiten an einem Schiffsrohbau, die die Frau eines Mitarbeiters geschossen hat. Zu der Henri-Maske-Erkennungsmelodie von Vangelis laufen die Bilder von Schweißarbeiten über den Bildschirm. Der Mann sagt, er finde, der Film sei ganz niedlich gemacht.

Auf der Werft beschäftigt ein deutsches Subunternehmen polnische und ein anderes deutsches Subunternehmen rumänische Mitarbeiter. Die Polen sind mit 25 Euro die Stunde schon fast gleichauf, sagt der Production Manager. Die Rumänen bekommen Dreiviertel des Lohns, den die Deutschen bekommen.

Die Werft heißt Peters Schiffbau GmbH und gehört der Kusch Yachts Projekte GmbH, die Mehrheitseignerin der ersteren ist.

Ich bin bei der Peters Schiffbau GmbH angestellt, wir werden aber auch an die Kusch Yachts ausgeliehen, sagt der Mann. Aber das merk' ich gar nicht.

Wir gehen in die „Urwald-Werft“, die so heißt, weil da eine Plane über dem Schiffsrohbau liegt, die vor Regen schützt, aber luftdurchlässig ist. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen, später wird man diesen Teil der Werft nicht mehr besuchen dürfen, Vorsichtsmaßnahmen vor Attentaten und Spionage. Das sind schon sehr wichtige Persönlichkeiten, sagt der Production Manager, für die man hier die Schiffe baue, nicht Abramowitsch, mit dem habe man sich gestritten, mehr könne er nicht sagen, nur soviel noch: Osten, aber nicht Russland.

Das vorangegangene Schiff, das in der Werft gebaut wurde, das dürfe er hingegen sagen, sei für den damaligen Chef von google, Eric Schmidt, gewesen. Das Schiff wäre Deepsearch getauft worden und segele nun unter der Flagge der Cayman Islands.

In den Büroräumen der Werft ist ein Miniatur-Modell der Deepsearch aufgebaut. Auf dem Achtern-Deck sind kleine Fernrohre angebracht. Das ist für die Mammel-Observation, wie sagt man auf deutsch, sagt der Mann, und – ach ja – da unten am Bug, das sind die Geräte, die die Bodenproben nehmen.

Die Bodenproben?

Zur Suche von Rohstoffen, sagt der Production Manager.

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Frage: Was machen Sie eigentlich mit Ihrem Geld? Wo investieren Sie es?

Eric Schmidt, ehemaliger CEO bei google: In Tiefseeforschung, da die Ozeane sehr wichtig für die Menschheit sind. In den Ozeanen spielt sich so viel ab, von dem wir noch gar nichts wissen. Wir wissen viel über das All, wir wissen viel über das Klima, aber noch zu wenig über die Ozeane. Ich habe mir in Hamburg ein Tiefsee-Forschungsschiff bauen lassen.

Frage: Werden Sie auch ein Unterwasser-Labor bauen?

E.S.: Die beste Tiefsee-Wissenschaft funktioniert auf einem Schiff, mit den neuen Technologien wie Glasfaser kann man sehr tief gehen – mit hochauflösenden Kameras, fantastischen Bildern, Infrarot-Aufnahmen etc. Das wird ein Projekt der nächsten Jahre sein.

Frage: Man wird Sie künftig häufiger auf dem Schiff antreffen?

E.S.: Wenn ich nicht seekrank werde.

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Die karibische Inselgruppe Cayman Islands (Kaimaninseln) besteht aus den drei Inseln Grand Cayman, Little Cayman und Cayman Brac. Die Kaimaninseln liegen auf den geographischen Koordinaten 19 ° 30 Nord und 80 ° 30 West. Sie liegen 240 km südlich von Kuba und 268 km nordwestlich von Jamaika. Damit befinden sich die Inseln zwischen Kuba und Mittelamerika.

Amtssprache: Englisch

Hauptstadt: Georg Town auf Grand Cayman

Staatsform: Britisches Überseegebiet des Vereinigten Königreichs

Fläche: 264 km²

Einwohnerzahl: 49.035 (2009)

Die Cayman Islands verwalten als einer der zehn größten Bankplätze der Welt Unsummen von Auslandsgeldern. Insbesondere ausländische Firmen zeigen großes Interesse an dem anerkannten Finanzplatz auf Grand Cayman. Ein strenges Bankgeheimnis, das auch Immobilien-, Börsen- und Versicherungsmakler einschließt, und die 100%ige Steuerfreiheit machen die Cayman Islands für Investoren interessant. Begriffe wie Kapitalertragssteuer, Einkommenssteuer oder Erbschaftssteuer sind auf den Inseln unbekannt. Ein freizügiger Kapitaltransfer und keinerlei Devisenkontrollen machen die Geldanlage auf den Cayman Islands leicht. Da zwischen einheimischen und ausländischen Investoren keinerlei Unterschiede gemacht werden, kommen die steuerlichen Vorzüge hier voll zum Tragen.

Die Hauptstadt Georg Town auf Grand Cayman bietet mittlerweile mehr als 400 Bankhäusern einen Standort. Mehr als 700 Versicherungsgesellschaften sind ebenfalls auf der Insel registriert. Mit tausenden Firmen, Offshore-Gesellschaften und unzähligen Hedge-Fonds, die auf Grand Cayman residieren, entwickelte sich die kleine Inselgruppe zu einem der bekanntesten Offshore-Finanzplätze. Dies führt dazu, dass auf den Cayman Islands geschätzte 1700 Milliarden Dollar aus dem Ausland deponiert sind und über Offshore-Gesellschaften verwaltet werden.

Die Gründung einer Offshore-Gesellschaft auf den Cayman Islands ist relativ einfach. Die erforderlichen Formalitäten können innerhalb von 14 Tagen erledigt werden. Dann kann diese steuerfreie Rechtsform sofort in Kraft treten, sofern alle offiziellen Behördenvorgaben erfüllt wurden. Ideal sind Offshore-Gründungen insbesondere für Firmen, die in erster Linie Wert auf Anonymität und Diskretion legen. Da bisher noch keine offiziellen Verträge über den Austausch von Bankdaten mit anderen Staaten bestehen, sind Geschäftsinformationen nicht ausforschbar und die Anlagewerte bleiben geheim. Einer legalen und zum Recht der Cayaman Islands konformen Offshore-Gesellschaftsgründung steht bei Einhaltung der entsprechenden Formalitäten daher nichts im Wege. Eine Chance, die viele ausländische Firmen aus Ländern mit hohen Steuersätzen gerne ergreifen, um die Kosten zu minimieren.

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In der Nacht hören wir einen Einbrecher.

Waren Sie vielleicht um vier Uhr nachts hier?, fragen wir vorsichtig am nächsten Morgen B.

Ja, sagt B wie selbstverständlich.

Kann's auch halb vier gewesen sein?

Nein, sagt B empört.

Warum er denn überhaupt so früh komme.

Um den Boiler zu prüfen. Zu gucken, ob die Heizung läuft.

Läuft die denn manchmal nicht?, fragen wir.

Nein, die läuft eigentlich immer, sagt B.

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Ich träume, dass ich den Schlüsselkasten im Alfred-Döblin-Haus gefunden habe, in dem alle Ersatzschlüssel hängen. Den hatten wir schon gesucht.

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1871 wurde eine der drei Wewelsflether Werften von Schiffbauer Jürgen Peters gekauft, die bis dahin seinem Lehrmeister gehört hatte. Für den Bau der kleinen Holzschiffe wurden alle Teile mühsam per Hand gesägt, 1894 wurde eine maschinell angetriebene Säge gekauft. 1897 wurde mit dem Eisenschiffbau begonnen.

Zu dieser Zeit wurde den Werftarbeitern ein Stundenlohn von 32 Pfennig gezahlt. Die Arbeit wurde an sechs Tagen á elf Stunden, d.h. an durchschnittlich 66 Stunden in der Woche ausgeführt. Dem Lohn wurden Anteile für Kranken-, Pflege-, und Altenversicherung abgezogen, die Handwerksausrüstung musste selbst angeschafft werden. Bei schlechtem Wetter oder schlechter Auftragslage wurde der Lohn einbehalten.

Nach einem verheerenden Feuer wurde die Werft 1909 am Kleinen Außendeich östlich der Störfähre wieder aufgebaut, wo auch die Abwrackerei betrieben wurde.

Im Ersten Weltkrieg wurden alle Werft-Arbeiter abgezogen, um in den Marinehäfen Hamburg und Kiel zu arbeiten.

1918 wurde ein Hammerkran gebaut, der zum Wahrzeichen von Wewelsfleth wurde. In der kurzen, revolutionären Zeit nach Kriegsende wurde ein Arbeiter- und Soldatenrat in Glückststadt gegründet, sowie ein Wachtkommando in Wewelsfleth. In den 1920er wurde Danzig und Umgebung von etlichen Facharbeitern verlassen, die in der Peters-Werft arbeiteten.

Reichstagswahl 1930. Ergebnisse Wewelsfleth: SPD 215 Stimmen, NSDAP 206 Stimmen.

Höhepunkt der Eintrittswelle in die NSDAP in Wewelsfleth 1931. Zahl der Neumitglieder: 19.

Reichstagswahl 1932. Ergebnisse Wewelsfleth: SPD 190 Stimmen, NSDAP 353.

Für das Jahr 1933 steht im Wewelsfleth-Buch aus der Küche: „Eine Bücherverbrennung in kleinem Rahmen fand auf dem Schulhof statt.“

1935 überließ die stillgelegte Werft der Hitlerjugend einen Büroraum.

1936 wurden, aus Freude über den Ausgang der Reichstagswahl, in der die NSDAP 99 Prozent der Stimmen erreicht hatte, von 12 Uhr mittags bis 1 Uhr die Glocken der Wewelsflether Trinitatis-Kirche geläutet.

1937 verkaufte ein Mann mit dem Namen Fritz Sternemann die beiden anderen Wewelsflether Werften für 30.000 Reichsmark an ein Hamburger Konsortium.

Während des Zweiten Weltkrieges diente ein leerstehender Schuppen der Peters-Werft als Kriegsgefangenenlager für Polen und Franzosen. Auch im Gasthof und in dessen Garten waren 30 bis 40 französische Kriegsgefangene untergebracht. Die sowjetischen Kriegsgefangenen schliefen in einem Schweinestall. Polnische und russische Zwangsarbeiterinnen waren im Wiebensohnschen Gasthaus untergebracht.

1941 arbeiteten diese Frauen auch - unter anderem an der Bohrmaschine - in der Werft.

1943 starb der polnische Zwangsarbeiter Wladislaw Serek, der bei einem Bauern in Uhrendorf arbeitete, unter ungeklärten Umständen.

1944 starb das polnische Mädchen Lucie Torgarewa, dessen Mutter Tatjana Torgarewa auf einem Hof in Roßkopp arbeitete, unter ungeklärten Umständen. Das Mädchen wurde im Reihengrab a+b 36 bestattet.

Vom Kriegsende berichtet ein Augenzeuge: „Wir sollten als Volkssturm einen Trupp Polen und andere, die früher bei den Bauern gewesen waren, zu Fuß über Wilster nach der Burger Fähre verfrachten, mit vier Mann vom Volkssturm und 20 bis 30 Gefangenen. Einer nach dem anderen von den Gefangenen blieb unterwegs sitzen oder haute ab.“

1945 brachten die englischen Alliierten den Wewelsflether NSDAP-Ortsgruppenleiter Husemann in ein Internierungslager.

1948 wurde der ehemalige Wewelsflether NSDAP-Ortsgruppenleiter Husemann von den deutschen Behörden aus dem Internierungslager entlassen und in den Schuldienst wiedereingegliedert.

Am Ende des Kapitels im Wewelsfleth-Buch aus der Küche, das den Nationalsozialismus und die Zwangsarbeit behandelt, steht, dass nach Kriegsende auf dem Feld eines Bauern ein Massengrab gefunden wurde. Die Schädel aber stammten, nach eingehender Untersuchung, aus der Zeit der Völkerwanderung. Warum das in diesem Kapitel steht, steht da nicht.

Lasst die Toten ihre Toten begraben.

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Es ist Wochenende. Das erkennt man daran, dass junge Menschen in roten Autos schnell um die Kurve quietschen. Sehnsucht erfüllt den Raum. Nach der Hälfte der Stipendiums-Zeit ist ein Ausgehen nicht nur erwünscht sondern dringend nötig. Vollversammlung in einem Zimmer mit Blick auf die Straße. Ein Blick auf das Kino-App des Smartphones, ein weiterer Blick auf das Bus-App, sicherheitshalber doch noch eine Delegation auf die Straße gesandt, zum Busfahrplan. Dann mit letzter Gewissheit:

Es fährt kein Bus nach Glückstadt, wo kein Kino ist.

Es fährt auch kein Bus nach Itzehoe, wo ein Kino ist.

Die Menschen, die wir kennen, die ein Auto haben, können nicht. Wir rufen diese Menschen noch einmal an und fragen, ob sie nicht jemanden kennen, der ein Auto hat und kann. Wir sind langsam bereit, richtig viel Geld in die Hand zu nehmen. Wir sagen: 40 Euro! Aber auch die Menschen, die ein Auto haben und gekannt werden von den Menschen, die wir kennen, die ein Auto haben, können nicht. Oder brauchen kein Geld.

Wir rufen das einzige Taxiunternehmen in Glückstadt an. Der Mann am Telefon sagt: „Ich bin eigentlich gar nicht da.“

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Der Arzt fragt H, warum sie Kaffee trinke. H sagt, dass sie sich dann besser konzentrieren könne. Der Arzt sagt, dass das ein klares Zeichen für ADHS sei. Leider könne er Erwachsenen kein Ritalin verschreiben, weil sie dafür erst zum Neurologen müssten. Aber es ginge auch über outlay oder so, H kann sich an den genauen Begriff nicht erinnern – ein weiteres Zeichen für ADHS. Jedenfalls schreibe der Arzt das Rezept aus und man bezahle es dann privat. I und ich wollen auch Ritalin haben.

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B will mit den Damen, wie er sie nennt, einen Ausflug unternehmen. Wir dürfen uns aussuchen mit welchem Auto: Jeep, Baujahr 1962, oder Opel. Wir wollen Jeep. Den Jeep kann aus einem Flugzeug werfen, ohne, dass er kaputtgeht, sagt B. Das ist toll, sage ich.

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Im Wewelsflether Gesangsverein, der sich freitagabends in einem Raum im oberen Stockwerk der Mehrzweckhalle trifft, bin ich die jüngste. Dann kommt lange Zeit nichts und dann kommt der Pastor, der ist 52.

Eine alte Frau beugt sich am ersten Probentag zu mir herüber und flüstert in mein Ohr:

Die Texte, da müssen Sie sich nicht wundern, die sind hier manchmal so ein bisschen … komisch!

Wie meinen Sie?, frage ich verschwiegen zurück.

Na, so … religiös!, sagt sie.

Die Texte sind dann alles andere als komisch. Beispielsweise „Merry Christmas Allerseits“ von Udo Jürgens:

Bis mother in the kitchen runs/ im Ofen burns the Weihnachtsgans/ And then comes the Feuerwehr/ with Tatü-ta-ta daher/ And they bring a long long Schlauch/ and a long long Leiter auch/ And they schrei "Wasser marsch"/ Christmas is now im (UND HIER EINE GANZ GANZ LANGE PAUSE EINHALTEN, WEIL, JETZT KOMMT JA DER WITZ:) Eimer.

Eine Frau will nicht mitsingen, weil das Englisch sei, sagt sie, und sie sei ja schließlich in Deutschland hier.

Das ist kein Englisch, sage ich, keine Angst.

Der Chorleiter sagt: Wir singen nicht nur deutsch, wir singen auch Latein und Plattdeutsch. Und deshalb singen wir auch Englisch.

Die Frau sagt: Da muss ich aber sieben Bier trinken, bevor ich das in der Kirche singe.

Ich sage: Das ist doch eine gute Idee.

An den Wänden in dem Raum im oberen Stockwerk der Mehrzweckhalle hängen eingerahmte Foto-Collagen von dem Besuch des Austausch-Chors aus Texas im Jahr 1975. Das hat dann später aufgehört, sagt der Pastor, als der Wewelsflether Gesangsverein mit dem Kirchenchor verschmolzen ist, da waren dann auch Frauen dabei und damit sei der texanische Chor nicht mehr zurechtgekommen.

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B soll nicht mehr Laub saugen, weil das so laut ist. Da hat B aber mal in BERLIN angerufen und BERLIN sagt auch, wir dürften ihm nicht diktieren, wann er zu arbeiten habe.

Am nächsten Tag will er dann doch eine Zeit abmachen, wann er die Blätter mit dem Laubsauger einsaugen darf.

Wann denn, morgen?, fragen wir.

Nee, morgen liegen da ja noch keine Blätter, sagt B.

Wieso liegen die da denn nicht, wo er doch seit Tagen nicht mehr mit dem Laubsauger gearbeitet hat?

Na, die hat doch jetzt der Wind weggeweht, sagt B.

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Heut ist ja nicht so voll, sagt der Fahrer des Bullis, der die ehemaligen Alkoholabhängigen vom Eulenhof gegenüber zu Kaffee und Kuchen nach Glückstadt fährt.

Voll ist hier keiner, sagt ein Mann.

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Dezember

Ich bin bis Ende Dezember da, sage ich auf die Frage, wie lange ich noch im Alfred-Döblin-Haus sein werde.

Im Dezember ist ja eigentlich nie jemand da, sagen dann immer alle.

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Bist du jetzt ganz allein in dem Haus?3

Ja.

Hast du da nicht Angst?

Vor dem Atomkraftwerk habe ich Angst. Ich weiß einfach nicht, was ich dann machen soll.

Ja, das wissen wir auch nicht.

In Hamburg sind sie ne halbe Stunde später dran, dann lieber hier und schnell evakuiert werden.

Jod-Tabletten, hast du die?

Ja, die hab ich.

Ich hab', glaube ich, keine.

Ist mir egal, Hauptsache gleich tot, das sag ich immer.

Das ist ja das Problem, denke ich. Man ist überhaupt nicht gleich tot.

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Der Matthias war ja auch da, sagt Elke auf der Rückfahrt vom Weihnachtskonzert des Wewelsflether Gesangsvereins in Krummendiek. Die Frau von dem ist ja gestorben. Im Juli geheiratet, im März rausgefunden, im August tot.

Ist jetzt auch schon wieder über ein Jahr her, sagt Iris.

Krebs?, frage ich hysterisch.

Ja, sagen sie im Chor.

Hier sterben ja viele an Krebs, sage ich. (Das ist leicht untertrieben, eigentlich sterben hier alle an Krebs.)

Ja, aber es werden auch wieder Babys geboren, sagt Edith.

Und es gibt andererseits auch viele Alte, sagt Iris. Das teilt sich so auf: Viele Junge sterben an Krebs und es gibt viele Alte.

Ja, der Herr Dietmarschen wird auch schon 91 nächstes Jahr, sagt Emmy. Das stand im Gemeindeblatt. Dann sagt sie noch, dass sie auch einmal aufgehört habe mit dem Singen, wegen des Krebs.

Ich dachte, der Mann hat nicht mehr gewollt, sage ich, weil sie mir das auch schonmal erzählt hatte, auf dem Heimweg von der Mehrzweckhalle.

Ja, das auch, sagt sie. Der hat dann immer so'n Gesicht gezogen. Aber irgendwann hab' ich dann in der Kirche beim Adventssingen auf der Bank gesessen und hab' gedacht, nee, ich geh da jetzt wieder hin.

Das ist gut, sage ich.

Ja, sagt Emmy.

Und der Mann, kommt der jetzt mit?

Nee, sagt sie, der ist jetzt tot.

Die Renate vermiss' ich schon immer noch, sagt Edith. Das hab ich immer noch nicht verwunden.

Jeden Tag so leben, als wenn's der letzte ist, sagt Emmy.

Nee, das wär ja'n bisschen doll, sagt die Iris. Jeden Tag betrunken.

Ich mein ja nur, sagt Emmy. Das sagt man doch so.

Nee, das wär 'n bisschen doll, beharrt Iris.

Edith sagt, mit 85 werde sie eine Bank überfallen, wenn sie dann ins Gefängnis käme, das wäre nicht mehr schlimm, da bekäme sie eine bessere Versorgung als im Pflegeheim und dann könne sie endlich mal studieren.

***

Ich träume, dass ich im Keller sitze. Meine Eltern sitzen auch da, ich hatte mich mit ihnen verabredet, weil ich am Anfang von etwas stehe und da sollten sie mir meine alte Schultüte mitbringen. Meine Eltern sind dann mit zwei Schultüten gekommen, meiner alten und einer neuen, ich soll mir eine aussuchen. Mir wird das auf einmal ein bisschen zu aufwendig und langwierig und vor allem peinlich vor den anderen, die hier mit mir im Keller sitzen, meinen Genossinnen, und ich suche mir schnell eine Schultüte aus, und entscheide mich gegen die neue, aber in der von früher ist nichts mehr drin und in der neuen noch nichts, und ich frage mich, was meine Eltern denken, warum ich eine Schultüte mitgebracht habe will, ohne etwas drin.

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Um 15.10 Uhr aus dem Fenster geschaut und das Schiff ist weg. Das sollte doch erst morgen sein! Der Stapellauf, der einzige Termin im Dorf, den ich – anders als das Blutspenden für das DRK und den Kartenspielabend von der CDU – unter gar keinen Umständen verpassen wollte, habe ich: verpasst.

Im Nachhinein macht alles Sinn: der Rums, den ich mich nun erinnere, vor ein paar Stunden gehört zu haben; dass so viel los war auf der Straße; dass der Pastor in die Deichreihe eingebogen ist – da geht der doch sonst nie lang!

Eine Freundin hatte angerufen und ich hatte überhaupt einmal hochgeschaut von der Arbeit. Schnell die Schuhe angezogen und zum Deich gelaufen, aber da war das Schiff schon im Wasser. Mit mir auf dem Deich: ein junger Seefahrer, der nach Weihnachten in der Trinitatis-Kirche heiraten wird. D von gegenüber. Ein alter Hafenmeister, der aus Spandau kommt.

Aber in Spandau gibt es doch gar keine Häfen, sage ich.

Eben, sagt der Hafenmeister.

Dann sagt er noch, ich solle doch mal zur Gabi kommen. Die Gabi ist die Besitzerin der Kneipe „Ebbe und Flut“. Ich habe mich in zweieinhalb Monaten nicht hingetraut zur Gabi, und befürchte, dass ich mich jetzt nicht einfach so spontan trauen werde.

Niemand weiß, für wen das ist, das Schiff. Niemand wusste, dass der Stapellauf schon heute ist.

Später, zurück am Schreibtisch, denke ich: Da haben die Menschen ein ganzes Schiff gebaut, während ich hier hinter dem Fenster gesessen habe und in drei Monaten nur drei Kapitel geschrieben habe. Aber wenn man genau hingesehen hat, dann sah das Schiff noch ganz schön zusammengeschweißt aus, und das war es ja auch. Und ganz genaugenommen ist es auch nicht aufs Meer hinaus gefahren, sondern hat einfach ein paar Meter weiter am Dock angelegt, wo noch drei Jahre an ihm weitergebaut werden wird. Bis dahin schaffe ich das auch.

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In dem Interview, das mit mir für die Zeitung geführt wurde, habe ich gesagt, dass ich fast fertig sei mit meinem Roman. Die Überschrift des Artikels in der Zeitung, für immer einsehbar im Internet, schreit nun heraus: „Döblin-Haus-Stipendiatin liest aus ihrem fast fertigen Werk.“ Merke: Sage nie, dass du fast fertig bist. Man ist nie fast fertig, außer eben man ist: fast fertig.

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Der Mann von J ist auch an Krebs gestorben, Prostata-Krebs. Wenn man das schon früher gesehen hätte – aber so war zu spät. Da waren überall leuchtende Punkte auf dem Bild, so orange-gelbe, auf den Knochen, an den Schultern, überall. Das geht jetzt nur noch um Maßnahmen zur Erhaltung der Lebensqualität, hat der Arzt gesagt.

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Mechthild. Das war meine Frau.

Ja, das wir wissen.

Sie ist gestorben.

Ja, das wir wissen.

An Krebs.

Ja, an was auch sonst, in diesem verkackten Krebs-Dorf.

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Wewelsfleth + Krebs ist der vierte Treffervorschlag von Google, nach +Werft, +Immobilien und einem Rockmusikfestival, das sich „Rock City“ nennt und im Sommer auf der Wiese hinter der Mehrzweckhalle gefeiert wird.

Der Wind weht hier aus nördlicher Richtung, Brokdorf liegt vier Kilometer weit entfernt, im Norden. In dem teureren Supermarkt an der Dorfstraße kann man eine Postkarte aus Brokdorf kaufen, auf der etwas Abwesendes massiv anwesend scheint. In vier kleinen Quadraten grüßt den potentiellen Empfänger der Karte der Elbstrand, sowie ein Campingplatz, ein Café hinter dem Deich und das Freibad, das mit der großzügigen finanziellen Ausstattung des Dorfes ebenso gebaut werden konnte wie das Elbe Ice Stadion. Auf der Postkarte steht: „An der Elbe kann ich gut entspannen“.

1973 wurde über den Bau des Atomkraftwerks abgestimmt, Wahlzettel wurden verteilt mit den Kategorien „dafür“, „dagegen“ und „keine Meinung“. 784 Menschen stimmten gegen den Bau, 202 dafür. Wenn man aber nun mit einberechnete, dass nur 66 Prozent der Bevölkerung den Fragebogen zurückgegeben hatten - und die Verantwortlichen waren sehr gewissenhaft darin, all jenes mit einzuberechnen -, ergab sich, dass nur 49 Prozent der Bevölkerung gegen den Bau waren - eine klare Minderheit.

1976 wurde mit dem Bau des Atomkraftwerks begonnen.

Es gibt im Jahr 142 Krebs-Neuerkrankungen in Wewelsfleth, bundesweit sind es durchschnittlich 95. Am meisten erkranken die Menschen hier an Prostata-, Harn- und Darmkrebs. Das ist Pech für die Menschen, denn nur Leukämie und Lymphdrüsenkrebs kommen von der Strahlung, sagen die Wissenschaftler.

Im SPIEGEL steht: „Die Wewelsflether, heißt das, müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass auch eine Häufung letztendlich Zufall sein kann. Dass es bei dieser Krankheit keinen Sinn gibt, keine Gerechtigkeit.“

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Dezember 2012. Das Infozentrum des Kernkraftwerks Brokdorf wird zum 31. Dezember 2012 geschlossen. Angesichts der beschlossenen Abschaltung aller deutschen Kernkraftwerke und der Stilllegung des KBR im Jahr 2021 sind viele Schwerpunkte des bisherigen Besucherwesens nun nicht mehr zielführend.

Danke auch an all jene, die sich mit Offenheit und Objektivität um eine unvoreingenommene Bewertung und Beurteilung der Kernenergie bemühten. Dabei war nicht jeder Besucher im Infozentrum auch ein Freund der Kernenergie und so wurden dort auch viele hitzige Diskussionen geführt, wie Hauke Rathjen, Leiter des Zentrums, anmerkt. „Eines aber war allen Besuchern auf sympathische Weise gemein: der Wunsch, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen und nicht andere für sich denken zu lassen“, so Hauke Rathjen, Leiter des Zentrums.

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Es ist kurz vor Weihnachten. Die Frau von B muss arbeiten. B lädt mich zu sich nach Hause ein. Im Dezember ist ja sonst nie jemand da. Im Fernsehen läuft Loriot, das lassen wir an, als ich komme. Wir trinken Tee und essen Kekse.

Irgendwann sagt B: Und dann bin ich ja zum Bundesgrenzschutz gegangen.

Ich frage: Wie sind Sie denn darauf gekommen?

Na, ich war doch Jäger.

Und welche Grenze haben Sie da geschützt?

Na, die innerdeutsche.

Und welche Menschen haben sie da vor welchen beschützt?

Wie bitte?

Von wo nach wo sind die Menschen geflohen?

Na, von den Osten in den Westen.

Und was haben Sie dann getan, wenn da jemand aus dem Osten kam?

Ach, da kam nie jemand, da war doch die Mauer.

Ach so. Haben Sie denn dann Menschen daran gehindert, vom Westen in den Osten zu fliehen?

Wie bitte?

Sind denn Menschen von West nach Ost geflohen?

Nee!!! Von West nach Ost - das wollte doch keiner!!!

Ja, aber wenn von Osten niemand gekommen ist und von Westen auch nicht? Wen haben Sie denn dann beschützt?

Ja, wen haben wir denn da beschützt?

Das weiß B für einen kurzen Moment auch nicht mehr. Ach doch! Jetzt fällt's ihm wieder ein. Zigaretten! Zigarettenschmuggel. Von den Niederlanden in die DDR. Da gab es ein Loch. In den eigenen Reihen. Und da hat B dann einen Revolver bekommen, weil er ja jagen konnte, ham die ihm das zugetraut!, und dann hat sich umgehört. Unter den eigenen Leuten. Und: Ausfindig gemacht!

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D hat einen Freund, der in Brokdorf Fotos geschossen hat, damals, Ende der Siebziger. Als bei meinen Eltern früher einmal ein Brief von der Polizei für mich angekommen war, und ich meine Eltern beiseite genommen und ihnen erklärt hatte, dass sie sich von nun an darauf einstellen müssten, dass noch sehr viele Briefe von der Polizei für mich bei ihnen ankommen würden, dass das jedoch kein Anlass zur Sorge sei, denn sie wüssten ja, auf welcher Seite die Polizei vice versa ich stünde, sagte meine Mutter: „Ach Elli, du denkst immer noch an Brokdorf, aber das ist heute nicht mehr so.“

Ich hatte, ehrlich gesagt, überhaupt nicht an Brokdorf gedacht, ich wusste darüber hinaus gar nicht, was Brokdorf überhaupt war. Es hatte mich vielmehr noch gar nicht gegeben, als Brokdorf zu etwas wurde, an das man hätte denken können, wenn man an die Polizei dachte.

In Wewelsfleth fällt mir ein Buch wieder ein, das im untersten Regal der Bücherwand meiner Eltern stand, das ich mir als Kind oft angeschaut hatte, mit Fotos von Pferden und Polizisten und Stacheldraht und Menschen in komischen Lederjacken, die unter den Pferden oder in dem Stacheldraht lagen.

Diese Bilder bringe ich jetzt, gut 25 Jahre später, mit dem Freund von D, dem Fotografen, in Verbindung.

Ich rufe meine Mutter an und frage, ob sie mir das Buch nach Wewelsfleth schicken könne. Sie sagt: Nicht so gerne, das ist ein historisches Dokument. Aber man könne das auch im Internet finden, sie diktiere mal eben den Titel:„Kommunistischer Bund – Warum kämpfen wir gegen Atomkraftwerke?“

Die Wahrheit ist: Meine Mutter denkt immer noch an Brokdorf.

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Unter freier Verwendung von Zitaten aus:

Eon.com

Eon (2012): Einblick. Aktuelle Informationen für Nachbarn des Kernkraftwerks Brokdorf.

Goos, Hauke (2012): Der Fluch. Ortstermin: Das holsteinische Dorf Wewelsfleth fürchtet den Krebs und sucht Trost in der Wissenschaft. In: Der Spiegel 6/2012, 59.

Jürgens, Udo/ Hofer, Wolfgang (2003): Merry Christmas Allerseits. Melodie der Welt, Frankfurt.

Reischl, Gerald (2012): „Bei google, bis ich tot umfalle“ Interview mit Eric Schmidt, futurezone.at

Völperl, Eva (2011): Osteuropäische Arbeiter in Deutschland: Ausgebeutet, dann betrogen. In: taz, 14.10.2011

Wewelsfleth-Buch aus der Küche

Wikipedia

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1Und erst recht nicht über Ostpommern. Das könnte man ja denken, weil er in der Waffen-SS war, aber da war er ja noch sehr jung gewesen. Und er war da auch nicht freiwillig gewesen, also zuerst schon, aber dann ist er außerdem oder zusätzlich oder obendrauf noch eingezogen – wenn nicht sogar: reingezogen - worden. In jedem Fall hat er immer nur nachgeladen, nicht geschossen.

2Den Walnuss-Baum hat ja Günter Grass gepflanzt, bei der Geburt seiner Tochter.

3Frage, weil: Im Dezember ist ja sonst nie jemand da.