von Ellen Wesemüller
Auf einmal war alles ganz leicht gewesen. Wie, wenn man versucht,
mit einer stumpfen Nadel durch dicken Stoff zu stoßen,
und dann gibt das Gewebe plötzlich nach und man sticht sich
ins Bein.
Es war nicht so gewesen wie auf den Bildern, die in unseren
Geschichtsbüchern klebten: Mit angesteckten Zollhäusern, gestürmten
Gefängnissen und aufgebrochenen Gewehrspinden.
Keine Matrosen hatten gemeutert, es hatte keine Generalstreiks
oder Massendemonstrationen gegeben.
Es war nicht so gewesen, wie wir immer gedacht hatten: auf
der einen Seite wir, die Arbeiter (das hieß: alle), auf der anderen
Seite sie, die Fabrikbesitzer (das hieß: alle anderen). Die Soldaten
hatten nicht geschossen, die Panzer waren nicht durch die
Menge gefahren. Merkwürdig, dachten wir, das hatten wir doch
früher immer gesagt: Lass uns Waffen klauen, Liebling. Ohne
Gewalt wird’s nicht gehen, Leute, tut uns leid, wir hätten’s ja
auch gern anders.
Stundenlang, jahrelang hatten wir uns in löchrigen Turnschuhen
die Füße nass regnen lassen, unsere Zeitungen unterm
Arm, samstagmittags, nach durchfeierten Nächten, durch die
Einkaufsstraße watend, wach- und warmgehalten von dem Gedanken,
die Leute da abzuholen, wo sie standen. Aber die Leute
standen nicht und sie holten selber ab: Klamotten bei H&M,
Schuhe bei Salamander, Mittagessen in der Passage. Spätestens
beim Höhepunkt unseres Vortrags, zu dem wir zu unserem Bedauern
nur äußerst selten kamen, auf dem wir die Notwendigkeit
von Waffengewalt erklärten, flüchteten selbst die Stehenbleiber
unter ihnen in die nahegelegenen Cafés.
Unsere Argumentationsketten waren mit den Jahren länger
geworden, unsere Worte geschmeidiger. Die Gewalt erwähnten
wir nun nicht mehr, obwohl wir weiterhin von ihrer letztendlichen
Notwendigkeit überzeugt waren, vielmehr sprachen wir
von »zivilem Ungehorsam«, bezeichneten dies aber in unseren
Papieren, die wir wälderweise horteten, als lediglich strategischen Begriff.
In den Fernseh-Interviews, die mit uns in den
vergangenen Jahren öfter geführt wurden, als uns hätte lieb sein
können, betonten wir unsere Friedfertigkeit, nicht ohne uns
nachher bei unseren Genossinnen und Genossen zu entschuldigen:
Die Journalisten hätten unsere Aussagen aber auch ganz
schön aus dem Zusammenhang gerissen – nur aus welchem, das
sagten wir nicht.
Auf die Arbeiter hofften wir inzwischen nicht mehr, wir
nannten sie auch nicht mehr so, sondern »Prekäre«, das klang
irgendwie besser und wir fühlten uns zum ersten Mal auch von
uns selbst mitgemeint. So robbten wir uns in den Jahren vor
dem Aufstand voran, durchflossen Polizeiketten, schotterten
Bahnstrecken, blockierten Straßen und sogar den Reichstag.
Irgendwann blockierten wir nicht mehr nur, sondern okkupierten,
ein bisschen eingeschnappt, dass wir nicht diejenigen gewesen
waren, die diese Idee mit den Zelten gehabt hatten, ein
bisschen genervt davon, dass durch die »offenen Mikrophone«
jetzt wirklich alle alles sagen durften, aber zumindest waren wir
da für eine kurze Zeit mehr, waren wir fast viele, wenn auch irgendwie
andere. Da standen wir plötzlich neben Menschen, die
wiederum neben Schildern standen, auf denen stand: »Euer Kapitalismus
zerstört unsere Marktwirtschaft.« Erstaunt schauten
wir über unsere Schultern: Meinten die mit »unsere« etwa uns?
Selbstverständlich hätten wir ihnen mit Hilfe unserer Kapital-
Lesekurse vorrechnen können, dass sie da eine bodenlose
Unlogik verbreiteten, mit unseren Workshops zur Geschichte
der Klassenkämpfe, dass sie mit ihrer Enttäuschung, ihren Vorwürfen
und Hoffnungen, mit ihrer blöden Empörung, die auf
ihren Stimmbändern lag, nichts und wieder nichts erreichen
würden, aber wir rechneten ihnen das nicht vor, weil das unsere
alten Lehrer waren, die da standen, die uns selbst immer alles
vorgerechnet hatten, sondern schämten uns stattdessen für sie.
Als der Aufstand dann kam, waren wir in unseren Verstecken.
In unseren Wohngemeinschaften, in den Betten unserer
Freundinnen, in unseren Buchläden. Als der Lärm zu laut wurde,
um unsere Dubstep-Platten zu hören, waren wir vorsichtig
aus unseren Café-Kollektiven herausgetreten, hatten ängstlich
die Straßen, die vor unseren Clubbaracken verliefen, hinuntergeschaut,
hatten die Rauchschwaden beiseitegewedelt und
beschlossen, dass es das jetzt wohl wäre. Dass es jetzt – endlich – losginge.
Wir waren zum Pariser Platz gefahren, weil wir dachten,
dass das vielleicht der Ort sei, an dem wir uns alle treffen, an
dem wir uns sehen und diskutieren könnten. Wo wir gemeinsam
streiten könnten darüber, was jetzt werden soll. Im Auto
sitzend fiel uns auf, dass wir das jetzt auch nicht mehr so genau
wussten: was jetzt werden soll. Aber das hatten wir schon mal
gewusst, sagten wir uns. Zum Beispiel, wie man jetzt, nachdem
das Unwahrscheinliche wahrscheinlich geworden war, die Produktion
organisieren sollte. Jemandem fiel ein, dass es zu dieser
Frage eine Zeitschriftensonderausgabe einer befreundeten
Gruppe gegeben habe, vor ungefähr drei Jahren, die sei ziemlich
gut gewesen.
Einer von uns hatte doch seine Doktorarbeit über die wirtschaftlichen
Probleme der DDR in ihren letzten fünf Jahren
geschrieben, warf jemand ein. Der Gregor. Der kannte sich aus.
Wo ist der eigentlich?, fiel uns auf.
Der hat jetzt Depression, wusste jemand.
Luka hatte für ihre Kommune zu Kommunikationsmodellen
in größeren organisatorischen Einheiten recherchiert. Die
könnten wir jetzt brauchen, befanden wir, aber Luka wohnte
inzwischen auf dem Land.
Und Klara?, fragte jemand. Die hatte doch neulich eine
Veranstaltungsreihe zu Reproduktionsarbeit und Ökonomiekritik
organisiert.
Die ist zu Hause wegen der Kinder, sagten wir im Chor.
Das ist jetzt aber alles ein wenig unglücklich, stimmten wir
überein. Auch Johannes und Insa waren nicht gekommen, weil
sie auf einem Workshop der politischen Stiftung saßen, für die
sie seit Kurzem arbeiteten, die ihre Jugendbildungsarbeit um
das Thema »Krise« erweitern wollte, damit die Bildungsbenachteiligten
– Die Aufständischen!, wie wir einwarfen – nicht
immer alles mit Gewalt lösten. Till war sowieso nicht mehr gut
auf uns zu sprechen, weil er nicht einsah, warum er nicht gleichzeitig
in einer Werbeagentur für bevölkerungsnahe Touristenwohnungen
in Kreuzberg arbeiten und Kommunist sein konnte.
Gesa schließlich wollte endlich ihr Einführungswerk über den
Richtungsstreit innerhalb der KPD in der Weimarer Republik
zu Ende schreiben, da muss ich mich jetzt auch mal abgrenzen,
hatte sie am Telefon gesagt, sonst schaff’ ich das nie.
Als wir am Reichstag ankamen, trafen wir nur auf vereinzelte
Menschen, die sich an die blanken Mauern gelehnt hatten.
Wenn man die Toten mitzählt, sind wir doch ganz schön
viele, zitierte einer.
Die sind bestimmt vom Verfassungsschutz, sagte ein anderer.
Das heißt Inlandsgeheimdienst, sagten wir fast gleichzeitig.
Das sind unsere Eltern, stellten wir fest.
Außer uns und unseren Eltern hatten sich nur noch ein
paar Filmteams zum Reichstag verirrt, sonst war da niemand,
noch nicht einmal die Touristen. Dass selbst im Reichstag keiner
mehr war, die Lichter der Glaskuppel längst erloschen, die
Gänge, Sitzungssäle und Abgeordnetenbüros leer waren, das sahen
wir nicht oder vergaßen wir zu sehen, jedenfalls fiel es uns
erst sehr viel später auf. Es hatte stark geregnet in diesen Tagen,
und es wollte niemand mehr in nassen Schlafsäcken auf kalten
Böden campen, so wie im letzten Jahr, die Aufständischen jedenfalls
nicht, wir schon, denn etwas anderes konnten wir nicht,
mussten wir einsehen.
Wir könnten Autos anzünden, fiel uns ein, aber wir wussten
nicht so richtig, wie.
Mit Grillanzündern, vermuteten einige, aber sicher waren
sie sich da nicht. Wir hatten noch nie etwas angezündet, obwohl
wir natürlich offiziell nicht dagegen waren, aber irgendwie auch
nicht dafür.
Verweigern, schlug jemand vor.
Kapitulation, sagte ein anderer.
Die Negation der Negation, echoten wir, aber Dichtung
half uns jetzt auch nicht weiter.
Wir hatten uns noch nie bei Zeitarbeitsfirmen, Essensausgaben
oder Jobcentern angestellt (und wenn, dann nur für eine
kurze Zeit und mit dem beruhigenden Gefühl, dass das alles nur
eine Phase sei), sodass unser dortiges Nichtanstellen niemandem
auffallen würde. Auch wildes Streiken war keine Option,
denn wir arbeiteten allein und von Zuhause aus, weshalb unser
Wegbleiben dort niemanden stören würde.
Nehmt die Gewehre zur Hand, summte jemand leise vor
sich hin, die Melodie kannten wir von früher, aber im Nicht-schießen-Können waren wir schon immer die Besten gewesen.
Am späten Abend kamen dann doch noch einige Aufständische
zum Reichstag, sie hatten uns im Fernsehen gesehen und wollten
uns helfen (das heißt: unterstützen!, dachten wir beleidigt),
brachten uns Baklava, Chai und Decken vorbei und sagten, wir
sollten jetzt besser nach Hause fahren und uns den Rest lieber
im Fernsehen ansehen.
Müde setzten wir uns ins Auto, um auf direktem Weg zurück
in unsere Hausprojekte zu fahren, doch als das Licht des in
Flammen stehenden Jobcenters in der Rudi-Dutschke-Straße
uns durch die Windschutzscheibe blendete, fuhren wir dann
doch einmal an den Straßenrand und stiegen aus. Wir lehnten
uns vorsichtig an die Schultern der wütenden Menge und hofften,
dass die verzagte Anwesenheit unserer Körper hier vielleicht
irgendjemandem von Hilfe sein könnte.
Als die Anderen dann um die Ecke bogen, stellten wir erstaunt
fest, was wir schon immer wussten: dass es sie gab. Als
sie auf uns einschlugen, stellten wir weiterhin fest, dass sie das
wirklich konnten, was sie taten, dass sie niemand daran hinderte,
dass sie es nicht gegen das Einverständnis derjenigen taten,
die bisher für die Ordnung eingetreten waren, sondern mit deren
Wissen und dem Wissen derer, denen hier alles gehörte. Als
sie auf uns zu rannten, brüllten sie, als sie vor uns stehen blieben,
brüllten sie, als sie auf uns einschlugen, brüllten sie, aber
da konnten wir schon nichts mehr hören.
Nachdem sie unsere Köpfe getroffen hatten, sahen wir
nichts mehr und es tat auch nicht weh. Wir mussten fast lachen,
schauten uns zwischen den Schlägen, die wie Lichtjahre auseinanderlagen,
verstohlen an: Wir sind tot, dachten wir, legen wir
uns schlafen.
Als sie erneut ausholten, fragten wir uns: Warum geht das
denn hier so langsam vorbei? Es wissen doch jetzt alle, wie diese
Geschichte ausgeht. Wie die beschissene Abschlussmelodie
eines verlorenen Computerspiels, die in einer Endlosschlaufe
dudelte, nur, weil jemand vergessen hatte, auf »Zusammenfassung« zu klicken.
Als wir uns gegenseitig ansahen, wie wir dalagen, wie wir
um uns herum ausgelegt waren, dachten wir: Das wird nie wieder
gut, wie soll das je wieder gut werden.
Als die Anderen uns mit sich schleiften, als wir dann bei ihnen
saßen, versuchten wir, uns daran zu erinnern, was wir wussten:
Für sie ist nichts so schlimm wie ein weißes Blatt Papier. Nichts
ist so schlimm wie ein leeres Tonband in ihren Aufnahmegeräten.
In unserem Fall jedoch ist Schweigen Gold und Reden sechs
verschiedene Sorten Scheiße. Nehmen ist seliger denn Geben.
Manchmal aber, da mischt sich alles, kommt durcheinander
und braut sich zusammen. Dann, wenn die Zähne nicht
mehr die einzigen Knochen sind, die man sehen kann, nützen
einem die alten Sprichworte nichts mehr, die man sich so lange
gemerkt hat, und die neuen fallen einem noch nicht ein, und
dann redet jemand, obwohl da gar keine Zähne mehr sind, und
ihm wird gegeben, ein Schlag auf den Kopf zum Beispiel. Und
wir schweigen, wo wir schreien sollten, weil wir doch diejenigen
gewesen waren mit dem Bewusstsein, schweigen, weil wir es
gerade verloren haben oder immer und immer wieder verlieren.
Und obwohl das alles ein großes Geben und Nehmen ist, sehr
viel Gold in unserem Mund, zerreißen die Worte in der Luft, erstickt
das Schweigen und alles bleibt, wie es ist, und alles steht,
wo es zusammensackt und an den Wänden hinunterrutscht, wo
es liegen bleibt, in zerrissenen Hosen, mit eingedrückten Gesichtern.
Wir, so erkennen wir, das waren nie alle, das waren nur
ganz wenige, die passten in ein Auto. Und die Anderen, die mit
den Schlagstöcken, die mit den Schreibtischlampen, die mit
den Papieren und Aufnahmegeräten, die mit den Gewehren,
die hatte es doch gegeben. Und ohne Gewalt war es auch nicht
gegangen, genauso, wie wir es immer gesagt hatten. Das dachten
wir, bevor wir uns in Fluchtbewegungen verliefen, in Abwesenheiten
verloren, in Bunkern eingekerkert, das Licht gelöscht.
Auf einmal war alles ganz leicht gewesen. Wie, wenn man versucht,
mit einer stumpfen Nadel durch dicken Stoff zu stoßen,
und dann gibt das Gewebe plötzlich nach und man sticht sich
ins Bein.