Artfremd. Eine Arbeit am Mythos

von Ellen Wesemüller

(erschienen in: trashpool #5. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Tübigen, S.50-55.)

Po einer Honigbiene. Foto: Stefan Diller, Gewinner des Foto-Wettbewerbs der Internationalen Mikroskopie-

Konferenz der Universität Kiel 2011

Es war einmal ein Frosch, der lebte im Magen einer großen

Biene. Es lebte sich dort sehr gut, es war warm und es gab immer

etwas zu essen, meistens war es sogar etwas Süßes.

Aber mitunter wurde es doch sehr einsam und langweilig, und

der Frosch begann, sich danach zu sehnen, ein eigenes Leben zu

führen.

„Ich möchte auch so frei herumfliegen können wie du!“ sagte er

bei solchen Gelegenheiten zu der Biene, wobei er mit „Fliegen“

natürlich innerlich „Hopsen“ meinte, aber es war jetzt wichtig,

dass die Biene verstand.

Die Biene ihrerseits hatte sich nun aber schon lange Zeit an

den Frosch gewöhnt. Sie schätze es sehr, wie er ihre Nahrung

verdaute, sie mochte das kribblige Gefühl, wenn er vor Langeweile

in ihrem Bauch hin und her hüpfte, und sie wusste um den

Vorteil, den es hatte, dass er als gute Entschuldigung herhielt,

wenn ihr aus Versehen und in feiner Gesellschaft ungehörige

Geräusche entfuhren.

„Das war der Frosch!“, konnte sie anlässlich solcher Unpässlichkeiten

sagen.

Die Biene und der Frosch lebten nicht schon immer ineinander

– genauer gesagt: Der Frosch lebte nicht schon immer in der

Biene - aber doch schon ziemlich lange. Es hatte alles damit

angefangen, dass, nachdem sie schon einige Jahre ein Liebespaar

gewesen waren, die Biene zum Frosch gesagt hatte:

„Ich will keinen Sex mehr mit dir haben.“

„Ach?“, hatte der Frosch gefragt, denn er wollte sehr gerne ganz

viel Sex mit der Biene haben.

„Ich habe keinen Spaß mehr am Sex“, hatte die Biene gesagt.

„Ach?“, hatte der Frosch gefragt, denn er hatte sehr viel Spaß am

Sex mit der Biene.

„Es ist, weil … Es erinnert mich an …“

Die Biene konnte nichts Konkretes sagen und der Frosch konnte

Nichtskonkretes nicht verstehen. Da war der Frosch sehr traurig

geworden. Er schlug alles Mögliche vor:

„Wir könnten anderen Sex haben“, sagte er.

Die Biene willigte zögernd ein, aber nach kurzer Zeit merkte

sie, dass es ihr auch keinen Spaß machte, anderen Sex zu haben:

Es machte ihr keinen Spaß, ihren Stachel über die glitschige

Haut des Frosches zu ziehen, seine giftigen Ausdünstungen mit

ihrem Rüssel aufzusaugen, seine Schwimmhäute über ihr gelbschwarzes

Fell streifen zu lassen. Sie mochte es nicht, ihm ihre

durchsichtigen Flügel über die Augen zu reiben oder ihre pollengefüllten

Höschen an seinen Unterleib zu drücken. Alles von

alledem erregte sie nicht. Sie fühlte sich elendig.

„Wir müssen ganz anderen Sex haben“, schlug der Frosch vor.

„Ganz anderen?“, fragte die Biene. „Welchen denn?“

„Artfremd“, sagte der Frosch in knapper Präzision. Er hatte das

Wort vor kurzem aufgeschnappt und sich dabei so erschrocken,

dass er zu Eis erstarrt war und nicht mehr weiterhüpfen konnte.

Er hatte seitdem versucht, das Wort mit aller Willenskraft in die

hinterste Ecke seines Sprachzentrums zu verbannen, aber es war

so stark und unbändig, dass es sich immer wieder den Weg von

dort hinten nach vorne, in seinen Mund brach. Und jetzt war es

hinaus geschwappt.

„Artfremd?“, fragte die Biene, für die sich das alles auch sehr

aufregend anhörte. „Was soll das heißen?“

Das wusste der Frosch allerdings selbst nicht so genau, konnte

das aber nicht zugeben. Er tat ganz fachfröschig:

„Das bedeutet, dass ich nicht mehr versuche, mich an dir zu

reiben und du nicht mehr versuchst, dich in mich zu stoßen,

sondern dass wir beide versuchen, ineinander zu sein.“

„Ineinandersein, wie soll das gehen?“, fragte die Biene, nun

ernsthaft interessiert. „Ich kann dich ja schlecht mit meinem

Rüssel aufsaugen. Dafür bist du doch viel zu groß. Außerdem

erinnert mich Aufsaugen immer an Lohnarbeit: Nektar über den

Rüssel aufsaugen, ein Tropfen Nektar über den Rüssel herauslassen,

wieder einsaugen, wieder herauslassen, wieder einsaugen,

jedes Mal ein paar Enzyme beimengen, und dann, bei einem

Wassergehalt von 30 oder 40 Prozent …“

„Es muss noch einen anderen Weg geben“, sagte der Frosch

nachdenklich. „Wir müssen anders denken. Ganz anders. Andersherum.“

„Andersherum? Du meinst …“

„Ja.“

Und so taten sie es. Zunächst ging der Frosch um die Biene herum.

Dann legte er ihr seine nassen Frosch-Finger aufs Hinterteil

und schob ihre Pobäckchen auseinander.

Tausende von Hautläppchen in den schillerndsten Farben, ganz fein

übereinander geschichtet, rosafarbene Härchen an den

Rändern, die sich in der Luft zitternd hin und her wiegten. Der

Frosch faltete die Hautschichten weiter auseinander. Hinter der

ersten Hautschicht kam eine zweite Hautschicht zum Vorschein,

und als der Frosch sich daran machte, die Blätter der dritten

Hautschicht auseinander zu falten, stöhnte die Biene leise auf.

Überrascht hüpfte der Frosch einen gewaltigen Satz zurück und

saugte sich vor Aufregung an dem nächstbesten Blatt fest.

Der grelle Glanz der Häute blendete seine waagerecht geschlitzten

Pupillen auf eine angenehm schmerzhafte Art und Weise und ließ

seine Iris goldgelb refl ektieren, der glänzende Schein stach in

seine Augäpfel, der Sehnerv spannte sich, zog und zitterte, sodass

er sich nur noch mit halb geöffneten Augen seinen Weg voran

bahnen konnte.

Die äußerste Schicht des Bienenpos war in ein kühles Blau

getaucht und je tiefer der Frosch in die Biene eindrang, desto

goldener und gleißender wurde das Leuchten.

Die rosa Härchen umschmeichelten die kalten Froschglieder, die

faltig-trockene und gleichzeitig nachgiebige Konsistenz der Haut

zog seine Finger immer weiter und weiter in das warme, dumpfe

Innen.

Die Biene stöhnte lauter. Immer, wenn sie stöhnte, zogen sich

ihre Muskeln zusammen, die Hautfalten verengten sich, umschlossen

den Frosch, der inzwischen zur Hälfte im Körper der

Biene verschwunden war, und drückten ihn zärtlich weiter in die

Tiefe. Der Frosch begann zu schwitzen, sein Schweiß vermischte

sich mit dem Saft, der ihm aus der Biene entgegen schwappte,

der nach bitterem Honig roch und nach süßem Pollenstaub. Ihm

wurde ein bisschen mulmig, für einen kurzen Moment dachte

er, dass er würgen müsse, aber dann merkte er, dass es kein

Ekel war, sondern Überwältigung, er gierte vielmehr nach dem

Geruch, wollte vorankommen zu seiner Quelle.

Die Biene krümmte sich. Das, was wie ein dunkles Loch am Horizont

erschienen war, verschwand nun hinter den Krümmungen

und Wölbungen ihres inneren Hautgebirges. Der Frosch nahm

kurz Notiz davon, dass ihm nicht mehr kalt war, und schloss

daraus, dass sich der Großteil seiner Gliedmaßen nun nicht mehr

im Außen befanden.

Dann sah er, dass etwas aus dem schwarzen Loch auf ihn zukam,

ein weißes, langes, spitzes Dreieck, das ihm begehrlich entgegen

züngelte. Auch dem Frosch entfuhr seine lange, kalte Zunge und

er berührte diesen inneren, fremden Zipfel, spürte Muskeln,

Nässe und raues Fleisch.

Ein Zucken ging durch die Biene, ein Beben schüttelte ihren

Körper und mit einem fi nalen Hops stieß der Frosch ins Dunkle

vor.

Der Frosch war nun in der Biene.

Die Biene bäumte sich ein langes, ein letztes Mal auf, der Frosch

wirbelte an den Innenwänden des Insektenkörpers entlang wie

im Schleudergang, sodass er nicht mehr wusste, wo oben und

unten war, er sah Sterne, er sah Pferde, (Pferde?, dachte er, Wieso

Pferde?) er sah große Dunkelheit, dann war die Biene still.

Danach war alles anders gewesen. Für lange Zeit war alles sehr

gut gewesen, eine ganz andere Art von Sex, artfremd eben. Aber

dann war es dem Frosch langsam ein bisschen einsam geworden,

und langweilig war ihm auch dort drinnen und er sehnte sich

danach, frei herumhüpfen zu können. Er merkte, dass er sein

eigenes Leben zurück haben wollte. Er wollte der Biene auch

endlich einmal wieder auf Augenhöhe begegnen. Aber als er das

einmal vorsichtig ansprach, was er umgehend bereute, flippte die

Biene schier aus.

„Du sei ruhig!“, sagte sie und erklärte ihm, warum er, der Frosch,

sich in der privilegierteren Position der beiden befände. Er müsse

nichts zu essen suchen, zählte sie ihm auf, er müsse noch nicht

einmal selber verdauen. Er müsse keinen Honig abliefern und

keiner Königin gehorchen. Er müsse sich nicht bewegen und

könne immer gesund und rund auf seinem nackten Arsch sitzen

und sich durch die Gegend schaukeln lassen.

Das leuchtete dem Frosch ein, aber das Gefühl ließ ihn nicht

los, dass es an der Argumentationskette der Biene etwas gab,

was nicht stimmte. Was sie dort hineingemogelt, ihm untergejubelt

hatte, ohne dass er es finden und darauf zeigen konnte. Er

merkte, dass das, was er vorgeschlagen hatte, irgendwie anders

geendet war, als er gedacht hatte, oder besser gesagt: Er hatte es

nicht zu Ende gedacht. Er hatte nicht gedacht, dass er für immer

in der Biene sein würde. Und ihn beschlich das Gefühl, dass sich

irgendwelche Kräfteverhältnisse, irgendwelche Gewichte in ihrer

Beziehung verschoben hatten.

So umkreiste er immer wieder die gleichen Gedanken, hielt sich

an den gleichen Fragen fest: Warum fühle ich mich so klein?

Warum fühle ich mich so unnütz? Warum fühle ich mich so gefangen?

Insgeheim spielte er die Möglichkeit durch, dass die Biene

ihn da gar nicht mehr haben wollte, auf der Augenhöhe, und er

kam zu der Überzeugung, dass es einen Geheimplan brauchte,

um jemals wieder das Tageslicht zu sehen.

Doch ihm fiel nichts ein. Vor lauter Unglück hörte er auf zu essen.

Dann hörte er sogar auf zu trinken. Seine Lage schien ihm aussichtslos.

Die Biene, die gewöhnt daran war, dass der Frosch ihre

Verdauungsarbeit leistete, merkte zunächst nichts von der Appetitlosigkeit.

Dann hörte sie von Zeit zu Zeit ein leises Grummeln in

der Magengegend. Sie kannte das Geräusch von früher, hatte es

aber schon so lange nicht mehr gehört, dass sie unsicher wurde,

ob sie nun vielleicht krank war. Vorsichtshalber aß sie noch ein

bisschen mehr, damit der Körper genug Widerstandskraft gegen

die Krankheitserreger hätte. Das Grummeln wurde dadurch

jedoch nur noch lauter, taktete sich ein, schwoll an zu einem

Krampf. Der Bauch der Biene blähte sich und wurde hart. Bald

stöhnte sie vor Schmerz, wälzte sich hin und her, sodass auch der

Frosch hin- und hergeschleudert wurde. Er begann, gegen das

Schwanken an zu hüpfen, immer schneller und schneller hüpfte

er gegen die Magenwände, bis eine große Magenmasse in Bewegung

kam und ihn mit einem Schwall und einem tiefen Seufzer

seitens der Biene aus dem Inneren des Insektenkörpers hinaus

beförderte.

Da lag der Frosch, dreckig und übelriechend. Zu seiner Enttäuschung

fühlte er sich nicht befreit, sondern elendig, nackt und

allein. Die Biene blickte auf ihn herab, und der Frosch meinte,

einen kurzen Anflug von Traurigkeit in einem ihrer zahlreichen

Augen gesehen zu haben, doch dann verzog sie angewidert den

Rüssel und sagte:

„Artfremd. Was für eine bescheuerte Idee. Das weiß doch jedes

Kind, dass das nicht geht. Das sagt ja schon der Name. Art.

Fremd. Abartig! Was hast du nur für eine dreckige Phantasie.

Typisch, wie du mich da wieder mit reingezogen hast. Ich wollte

das überhaupt nicht! Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich

keinen Sex mit dir haben will. Aber du hörst mir ja überhaupt

nicht zu. Setzt immer nur deine eigenen Interessen durch. Du bist

ein richtiger Frosch! Meine Gefühle interessieren dich ja überhaupt

nicht. Und wenn es mir mal gut geht, dann musst du das

gleich wieder kaputtmachen.“

Der Frosch lag da und wurde sehr traurig. Er versuchte, nicht

mehr zuzuhören. Er versuchte, sich davon zu machen. Das Tageslicht

blendete seine Augen, sodass er sich nur noch mit halb

geöffneten Augen seinen Weg voran bahnen konnte. Die Muskeln

seiner sonst so starken Hinterbeine waren von der langen Zeit

der Bewegungslosigkeit geschwächt, und er konnte sie nur noch

mühevoll auf- und zuklappen. Hinkend hüpfte er auf den Tümpel

zu.

Die Luft umschmeichelte seine kalten Froschglieder, strich über

die Schwimmhäute seiner Zehen, zog ihn immer weiter und

weiter zum kühlen dunklen Nass, das, moderig riechend, sein

Nasenloch zum Beben brachte. Er bekam eine Gänsehaut. Der

Frosch musste leise kichern. Dann setzte er zum Sprung an.