Klage der verschütteten Milch
von Ellen Wesemüller
Eine alte Frau trinkt keine Milch. Von allen Dingen, die man trinken und essen kann, die sie nicht isst und trinkt, ist ihr die Milch das Unerklärlichste. Die alte Frau trinkt viel und isst kaum. Was hauptsächlich hineinlangt in ihren Magen sind Weißwein, Schnaps und Kaffee, in dieser Reihenfolge. Wenn sie mehr trinkt, dann redet sie weniger und weil sie immer öfter trinkt, redet sie kaum noch. Nur einmal, da hat sie eine Geschichte erzählt.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das wohnte mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner älteren Schwester in einem großen Haus an der Küste.
So hatte es zumindest den Anschein. In Wirklichkeit aber gab es eine Zeit, in der das kleine Mädchen nicht in dem großen Haus seiner Familie wohnte, sondern in einem sehr kleinen Haus, ganz für sich allein.
Das Haus war so klein gewesen, dass nur das kleine Mädchen es hatte sehen können. Es hatte das Haus ganz plötzlich entdeckt, genau an seinem achten Geburtstag. Genau an diesem Tag war es gewesen, dass es zum ersten Mal ein Kleid getragen hatte, ein Geschenk seiner Eltern, mit pastellfarbenem Blumenmuster und türkisener Schleife am Rücken, mit einem Saum, der so hoch lag, dass er vorn die Knie freilegte und hinten über die Waden fiel, der also vorne sehr kurz und hinten ein wenig länger war.
Das Mädchen hatte sich außerordentlich über das Kleid gefreut, denn bis dahin war das kleine Mädchen gar kein kleines Mädchen gewesen. Bis zu seinem achten Geburtstag hatte es nur Hosen getragen, so war es ausgemacht gewesen, denn die Eltern hatten sich nach der ersten Tochter einen Jungen gewünscht und da war das kleine Mädchen eben ein kleiner Junge gewesen.
Jetzt aber, an seinem achten Geburtstag, hatte das Kind ein Kleid geschenkt bekommen und mit dem war es, als kleines Mädchen, hinter seiner großen Schwester hergehüpft, zur Schule hin.
An seinem achten Geburtstag war es von der Schule heimgegangen wie jeden Tag, die ältere Schwester vorneweg, das kleine Mädchen hinterher. An diesem Tag jedoch war die Schwester, je näher sie dem Haus gekommen waren, in dem sie wohnten, immer langsamer geworden. Sie hatte regelrecht angefangen zu trödeln, war an der alten Eiche stehen geblieben, hatte eine Runde um den knorrigen Stamm gedreht und dann noch eine und noch eine und da war das kleine Mädchen ziemlich ungeduldig geworden. Es hatte wohl bemerkt, dass die Schwester in letzter Zeit jeden Tag ein bisschen langsamer gegangen war, das Zuhause immer ein wenig später erreichend.
»Wir müssen nach Hause«, hatte das kleine Mädchen zu seiner Schwester gesagt, »sonst bekommen wir eine gehörige Tracht Prügel«, so jedenfalls hatte sich der Vater ausgedrückt und die beiden Schwestern hatten es bisher tunlichst vermieden, herauszufinden, ob es ihm ernst damit war.
Da hatte die große Schwester das kleine Mädchen lange angeschaut, vielmehr hatte sie durch es hindurchgeschaut und auf den Stamm der Eiche gestarrt, auf das Astloch, das dort eingelassen lag, obwohl das kleine Mädchen doch davor gestanden und ihr die Sicht verdeckt hatte, und mit ihrem Zeigefinger hatte die große Schwester kleine Kreise in die Luft gemalt.
Als sie mit dem Starren und Malen zu viele Minuten verloren hatten, als dass sie das elterliche Heim noch pünktlich hätten erreichen können, rannte die große Schwester los. Die Beine der großen Schwester waren sehr schön und sehr lang, dünn und braun gebrannt, sie hatte es mit ihnen zur schnellsten Läuferin der Schule gebracht. So war die Schwester mit ihren langen, schönen Beinen pünktlich zu Hause angekommen, das kleine Mädchen aber – das lief und lief, bis die Luft zwischen seine Rippen stach, bis der Atem in seine Bauchdecke brannte –, das kam zu spät.
Der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits aus seinem Geschäft heimgekehrt, in dem er Eisen und Blut verkaufte, um das Mittagessen einzunehmen und den Mittagsschlaf abzuhalten. Die Mutter blieb während dieser Stunden im Geschäft, zu dem Zwecke, die Auslagen auszulegen und die Buchhaltung zu halten. Das kleine Mädchen war deshalb abwechselnd mit seiner Schwester dafür zuständig, das Abendessen vom Vortag aufzuwärmen und den Nachtisch zuzubereiten.
An diesem, an ihrem achten Geburtstag, als die Krokusse im Garten hinter der Veranda schon angefangen hatten zu blühen, war der Vater also bereits zu Hause gewesen, als das kleine Mädchen, ganz außer Atem, die Wohnungstür aufschloss. Zu seiner Überraschung ereilte es jedoch keine Strafe und das lag, aller Wahrscheinlichkeit nach, an seinem Geburtstag, dachte das kleine Mädchen.
Nachdem sie zu dritt gegessen hatten, der Vater, die Schwester und das kleine Mädchen, deckte es den Tisch ab, kratzte die Essensreste in den Mülleimer, stellte die dreckigen Teller in die Spüle und ließ heißes Wasser darüber laufen. Mit einem Tortenmesser schnitt es drei gleich große Stücke von der Geburtstagstorte ab, die es am Morgen von der Mutter ins Kinderzimmer getragen bekommen hatte, und verteilte die Stücke auf drei Teller.
Dann schöpfte das kleine Mädchen den Rahm von der Milch, schlug ihn mit einem Schneebesen steif, bis er zu Sahne wurde, füllte die Sahne in eine Glasschüssel und stellte sie in den Kühlschrank.
Schließlich ging es ins Wohnzimmer, um die Silbergabeln zu suchen, die man nur bei festlichen Angelegenheiten wie Geburtstagen oder Beerdigungen herausholen durfte.
Als es nach einiger Zeit in die Küche zurückkehrte und den Kühlschrank öffnete, fehlte die Sahne und auch die Schwester und der Vater waren wie vom Erdboden verschluckt.
Da machte sich das kleine Mädchen auf, den Vater und die Schwester zu suchen. Es sah überall nach: im Esszimmer, im Keller, auf der Veranda. Es sah sogar im Kasten der Standuhr nach. Schließlich ging es durch den Wandschrank, ins Schlafzimmer der Eltern.
Da stand es noch, da sah es die ausgelaufene Sahne, da sah es die Schwester liegen, den Vater, da drehte es sich um, da zog es an der türkisfarbenen Schleife ihres Kleides, da begannen die Winde zu stürmen und von den geöffneten Fenstern her wehten die Baumwollvorhänge weiß nach innen. Da wurde das Zimmer gleißend hell wie die Sonne, die Ecken des Raumes weich wie der Stoff der Tapeten, da klafften die Wände auf wie Drehtüren und bevor es sich versah, stand das kleine Mädchen in einem tiefen Wald.
Es war nicht der Wald, der sich an das Haus seiner Eltern anschloss, der vom Garten der Veranda abging und sich bis zur Küste hin schlängelte, den das Mädchen in- und auswendig kannte: seine Trampelpfade, seine Wiesen, seine Holzscheite, die dort für den kommenden Winter trockneten. Es war nicht dieser Wald oder zumindest hatte das Mädchen diesen Teil noch nie zuvor gesehen.
Und doch ähnelte er ihm, es wuchsen Gras und Bäume, aber alles war eine Spur dichter, eine Spur dunkler, wie zusammengerückt. Dieser Wald schien keine Ränder zu haben, nur eine endlose, tiefe Mitte, oder andersherum: nur Anfänge und Enden, die zugenäht waren und zusammenhielten gegen die Möglichkeit einer Lichtung.
Moos streichelte die Fußsohlen des Mädchens, das auf einmal keine Schuhe mehr trug, keine Söckchen. Zwei Trauerweiden streiften mit ihren langen, herabhängenden Armen sein Gesicht, das viel zu heiß war, als es dort ankam, viel zu nass, und sie kühlten und trockneten das Mädchen, das ohne sein Geburtstagskleid, das in sich selbst zusammengerückt, das nackt war. Als es sich aus der sanften Umarmung der Trauerweiden löste, als es die herabhängenden Äste beiseiteschob wie einen Vorhang, stand das Mädchen vor einem winzigen Haus.
Es hatte dieses Häuschen schon einmal gesehen. Vielleicht nicht das ganze Haus, vielleicht nur den Schatten eines Giebels, damals, als es zum ersten Mal nach dem Mittagsschlaf die Bettseite der Schwester leer vorgefunden hatte. Als die Mutter in den Auslagen schlief.
Um das kleine Haus herum war es dunkel und dumpf, überall wuchs Moos, nicht nur auf den Wegen, auch auf dem Dach des Hauses und zwischen den Ritzen der Backsteine, aus denen es gebaut war.
Moos, das die Haut streichelte, wenn man sich darauf legte. Moos, das still war und kühl.
Das Haus hatte keine Tür, die brauchte es auch nicht, denn das kleine Mädchen war selbst so winzig geworden, dass es durch die Ritzen der Steine ins Innere gelangte.
Im Haus wuchs das kleine Mädchen wieder an, wurde groß genug für die Schaukel, die dort hing, für das Karussell, das sich dort drehte, wurde größer als die zwei Wesen, die im Schatten eines festlich gedeckten Tisches saßen und erwartungsvolle Blicke auf das Mädchen hefteten.
Als das Mädchen genug geschaukelt hatte und ausgiebig Karussell gefahren war, bemerkte es die Unbekannten und setzte sich vorsichtig zu ihnen an den Tisch. Die beiden stellten sich vor: der Federn tragende kommissarische Anführer Inge und der Frosch, der Gnalli hieß, sich das aber nicht merken konnte und deshalb von allen, also vom kommissarischen Anführer Inge, lediglich »der Frosch« genannt wurde. Die beiden Freunde waren im Begriff, eine riesige, mit Schokolade überzogene Geburtstagstorte anzuschneiden – da war ihnen das kleine Mädchen gerade recht gekommen, denn es hatte Sahne mitgebracht.
Die alte Frau verstummt. Sie füllt ein Glas mit Weißwein und trinkt es in einem Schluck leer. Sie hält das Glas sehr fest in beiden Händen, dann streichelt sie die Tischdecke ein bisschen, dort, wo der Fuß des Glases einen feuchten Abdruck hinterlassen hat. Fast könnte man meinen, sie habe vergessen, dass sie gerade eine Geschichte erzählt, oder dass, wenn sie nur lange genug warte, wir das vergessen könnten. Da öffnet sie ihren Mund, doch die Worte halten sich an ihrer Zunge fest und so schließt sie ihn wieder. Setzt ein Schnapsglas an die Lippen und saugt, da faltet sich ihr Gesicht in Stücke. Ihre Augen blicken heraus, aber die Dinge, die hier draußen liegen, lassen sich nicht festhalten, die weichen aus und blicken zurück, hinein.
Nicht in einem Bottich hatte das kleine Mädchen die Sahne mitgebracht, fährt die alte Frau schließlich fort, nicht in einer Metallschale oder Glasschüssel, sondern einfach so, direkt auf seiner Haut. Das war ein bisschen unpraktisch, fanden der kommissarische Anführer Inge und der Frosch, der Gnalli hieß, aber auch notwendig, sagte das kleine Mädchen, denn die auf diese Weise vergossene Milch schmeckte so viel besser. Das jedenfalls hatte es den Vater sagen gehört, während die Mutter im Geschäft die Ein- und Ausgänge überwachte, und so musste es stimmen.
»Zum Nachtisch«, hatte der Vater gesagt, weil es solch ein braves Mädchen gewesen sei, und da hatte sich das kleine Mädchen gefreut, denn eigentlich war es zu spät von der Schule nach Hause gekommen, aber das hatte nichts gemacht, und da hatte nicht nur der Vater, sondern auch das kleine Mädchen seinen Nachtisch auf diese Weise essen dürfen, direkt von seiner Haut, während die Mutter in die Schaufenster schaute.
Das Mädchen selbst hatte nicht gefunden, dass die Milch auf diese verschüttete Art und Weise besser schmeckte, aber sie schmeckte auch nicht schlechter, eigentlich schmeckte sie nach gar nichts mehr.
Von diesem Tag an suchte das Mädchen das kleine Haus immer wieder auf. Es war erleichtert darüber, was es dort alles nicht gab: keinen Wandschrank, kein Schlafzimmer, kein Bett. Es war erfreut darüber, was es dort stattdessen gab: einen großen See, der tief und blau in der Mitte des Bodens lag. Als es ihn entdeckte, stieg das kleine Mädchen nach dem Torte essen hinein und das Wasser wusch ihm die Sahne von der Haut. Es spülte zwischen seinen Beinen hindurch und über seine Brust, wusch am Hals entlang und schwappte über sein Gesicht. Dabei wurde das Mädchen ganz sauber. Die Sahnehäubchen schwammen auf dem Wasser davon wie kleine, aufgeplusterte Schwäne.
Als es fertig gebadet hatte, zogen der kommissarische Anführer Inge und der Frosch, der Gnalli hieß, sich das aber nicht merken konnte, den Stöpsel aus dem See und das Wasser floss durch die Holzritzen der Dielen in die Walderde und nährte so die Wurzeln der Gräser und Trauerweiden. Eine derart süße Nahrung nicht gewohnt, wuchsen die Pflanzen dabei jedes Mal ein winziges Stück höher und wurden ein winziges Stück dichter.
Bald brauchte es keine festlichen Anlässe wie seinen Geburtstag mehr – das Haus tauchte immer dann auf, wenn das kleine Mädchen zu spät von der Schule nach Hause kam. Dann tauchte das Haus sogar auf, wenn es pünktlich kam. Schließlich tauchte es jeden Tag auf.
Immer, wenn das kleine Mädchen das Haus besuchte, brachte es Sahne mit. Manchmal gab es auch nur die Sahne und keine Torte. Eigentlich gab es nie wieder Torte. Sahne gab es immer.
Der kommissarische Anführer Inge und der Frosch gewöhnten sich schnell an die Gesellschaft des kleinen Mädchens. Sie freuten sich nicht nur über die Sahne, die es mitbrachte, sie hatten darüber hinaus eine neue Spielkameradin, die beim Schnick, Schnack, Schnuck die Regeln überwachte und als neutrale Schiedsrichterin bezeugen konnte, welcher der beiden Freunde gewonnen hatte und damit neuer, kommissarischer Anführer werden durfte.
Auch das kleine Mädchen war froh über seine Freunde: Inge war, wie von einem kommissarischen Anführer nicht anders zu erwarten, sehr mutig und konnte systematisch denken, der Frosch war zwar etwas vergesslich, füllte die leergewordenen Schubladen seines Kopfs jedoch sofort mit neuen Einfällen. Das kleine Mädchen konnte systematisch denkende und einfallsreiche Freunde gut gebrauchen.
Inge und Gnalli lehrten das kleine Mädchen viel. Zunächst lehrten sie es die Eigenschaften von Körpern. Das klang erst einmal merkwürdig, denn alle drei kannten ihre Körper ja schon ziemlich lange, im Falle des Mädchens sogar ganze acht Jahre und was gab es da schon noch zu lernen, dachte das kleine Mädchen.
Der Körper des kommissarischen Anführers glich dem eines großen, mächtigen Greifvogels, oder zumindest dachte man das zunächst, weil er um seinen Kopf herum mit einem Kranz majestätischer, lilafarbener Adler-Federn geschmückt war. Das kleine Mädchen lernte, dass Körper lediglich so aussehen können, wie etwas, das man zu kennen meint. Dass ein Körper bloß so erscheinen kann, als gehörte er einem großen, mächtigen Greifvogel, in Wirklichkeit aber trug er nur den temporären Kopfschmuck eines systematisch denkenden, kommissarischen Anführers.
Der Körper des Froschs sah sehr zäh und widerstandsfähig aus. Man konnte ihn quetschen und piksen, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Nur in eine ganz bestimmte Stelle durfte man nicht hineinstechen, sonst wäre der Frosch geplatzt. Diese Stelle musste man sich ganz genau einprägen, damit man den Frosch beim Spielen nicht aus Versehen zum Bersten brachte. Das Mädchen lernte also, dass ein Körper zäh und widerstandsfähig aussehen und gleichzeitig schwach sein konnte.
Schließlich schauten sich die drei Freunde den Körper des kleinen Mädchens an. Der sah nackt aus, wenn er ins Häuschen kam, nass und heiß, mit Sahne beschmiert und doch, wenn sie sich nicht auf die Äußerlichkeiten konzentrierten, sondern auf das, was in seinem Inneren lag, war da ein Schlagen zu hören, von fester, funkelnder Qualität, das den Körper des Mädchens in Aufruhr versetzte, das Wellen in seine Fingerspitzen aussandte, so dass sie kribbelten, an seinen Haarspitzen zog und seine Stimmbänder in Bewegung brachte. Das kleine Mädchen lernte, dass ein Körper im selben Moment sehr schwach aussehen und sehr stark sein konnte.
Die neuen Freunde lehrten das Mädchen nicht nur die Eigenschaften von Körpern, sondern ebenso die von Gegenständen. Auch hier gab es eine große Vielfalt zu verzeichnen. Zum Beispiel die Messer: Keins glich dem anderen. Es gab Buttermesser, die kleine und abgerundete Blätter wie Entenschnäbel trugen und Tischmesser, die ebenfalls keine außergewöhnlich scharfen Klingen vorzuweisen hatten. Ein besonderes Augenmerk legten die Freunde auf das Tortenmesser. Mit seiner feinen Zahnung konnte es die Torte in glatte Stücke schneiden, mit seinem langen Blatt, das vorne dreieckig und spitz zusammenlief, konnte es die Stücke sauber abheben. Es konnte jedoch noch viel mehr: zum Beispiel in weiche Gegenstände gesteckt werden, zum Beispiel in Körper, zum Beispiel in den Körper des Froschs. Wenn man nicht seine einzige, besonders empfindliche Stelle traf, war dem Frosch dabei lediglich ein bisschen kitzelig und er kicherte und dann lachten sie alle drei. Wenn das kleine Mädchen das Messer wieder an sich nahm, zog sich der Schlitz im Froschkörper zusammen, so, wie sich das Abwaschwasser zusammenzieht, wenn es den Ausguss hinabläuft. Träfe das kleine Mädchen jedoch seine empfindlichste Stelle, würde sich der Schlitz nicht wieder zusammenziehen und der Frosch würde auslaufen wie Abwaschwasser.
Je öfter das kleine Mädchen in dem See badete, desto reichhaltiger wurde die Erde an Nährstoffen. Die Bäume wuchsen, das Gras wuchs und auch das Moos wurde immer dichter. Die beiden Trauerweiden vor dem Haus glichen bald zwei dicken Wächtern. Nach und nach wurde es immer schwerer, das kleine Haus hinter den Trauerweiden wiederzufinden. Das Mädchen versuchte, sich andere Markierungen im Wald einzuprägen, Wipfel und Fahnenkraut, damit es sich nicht aus Versehen auf der anderen Seite der Gardinen wiederfand, noch bevor der See es sauber gewaschen hatte.
Doch alles wuchs und wuchs, auch die Wipfel, auch das Fahnenkraut, und eines Tages konnte das kleine Mädchen das Haus nicht wiederfinden.
Auf der anderen Seite der Gardinen, die grobmaschig und weiß ins Zimmer wehten, lag der Vater tot in seinem Bett.
Die große Schwester strich mit einem Schwamm über seine Brust und drückte ihn über einem Eimer aus. Sie zog das Bettlaken unter dem Körper des Vaters hervor und wrang auch dieses. Dann wischte sie den Boden und da reichte das Blut für zwei Eimer.
Die große Schwester nahm den Henkel des einen Eimers in die Hand, das kleine Mädchen legte das Tortenmesser auf den Nachtschrank und ergriff den anderen. Dann gingen die beiden Schwestern aus dem Schlafzimmer, durch den Wandschrank, vorbei an der Standuhr, hinaus auf die Veranda, in den Wald der Eltern und gossen das Blut aus den Eimern auf die Wurzeln der Bäume, das Gras, das Moos und die Trauerweiden. Da schrumpften die Bäume, das Gras, das Moos und die Trauerweiden, sodass die Mutter, die sich gerade dazu entschieden hatte, dass es nun vielleicht an der Zeit sei, das Geschäft zu schließen, den Weg zurück nicht mehr fand. Das kleine Haus aber, das blieb für immer verschwunden.
Die alte Frau steht auf und geht in die Küche. Mit der einen Hand hält sie sich an der Spüle fest, mit der anderen gießt sie Kaffee aus der Kaffeekanne in einen Becher. Sie streut keinen Zucker hinein. Sie gießt keine Milch hinzu. Die alte Frau mag keine Milch, aber warum, das weiß sie selbst nicht so genau.