Über alle Maßen
von Ellen Wesemüller
Die schmale Fernbedienung lag kühl in der rechten Hand.
L lag, mit dem Laken verklebt, in die Ritze zweier Matratzen gequetscht, mit dem T-Shirt vertäut, im Bett und schaute in den Fernseher.
Hier betrat der gerade noch lebende Heath Ledger das Dachzimmer seines gerade nicht mehr lebenden Geliebten, streichelte die kleine, hölzerne Cowboyfigur auf dem Schreibtisch, wandt sich der Kamera zu – die Haut um seine Augen glitzerte nass – und ging weiter Richtung Kleiderkammer. Zog das blaue Jeanshemd hervor, befühlte das eingetrocknete Blut am Ärmel, drückte das Hemd an sich, roch an ihm, umarmte sich von ihm, wiegte sich mit ihm.
Eigentlich wollte L zu diesem Kitsch nicht weinen. Trotzdem rann die warme Tränenflüssigkeit aus der Mitte der verklebten, unteren Augenlider auf die Wangen, sammelte sich am Mundwinkel an, wo die Zunge sie einsammelte und den Geschmack von Salzwasser an das Hirn weiterleitete.
L schaltete den Fernseher aus und starrte auf das schwarze Glas. Nach einer kurzen Zeitspanne des Zögerns klemmte die Fernbedienung zwischen den Pobacken. Die kleinen Tasten kitzelten die warme, weiche Haut, das kühle Plastik erregte die Öffnung. L drückte die Fernbedienung weiter vor. Wie so oft nahm L sich vor, den Gegenstand zum letzten Mal auf diese Weise zu gebrauchen, ihn später gründlich mit einem Feuchtigkeitstuch zu reinigen.
Ein Schlüssel hakte sich ins Schloss ein, drehte sich um und stieß die Tür mit einem leisen Knarren auf. L legte die Fernbedienung unter den Bettkasten, wischte sich über die Augen und ließ die feuchten Handinnenflächen wieder unter der Bettdecke verschwinden.
Als F das Zimmer betrat, kniff L die Augen zusammen und stellte sich schlafend. Hörte, dass F den Rucksack vom Rücken nahm und abstellte, den Reißverschluss der Jacke aufzog, sich auf das Sofa gegenüber vom Bett setzte, sich die Turnschuhe mit dem jeweils anderen Fuß abstreifte. Hörte, dass F wieder aufstand, ein paar Schritte ging und vor der Bettkante stehenblieb. Spürte, dass F L beobachtete. Dass F das Hemd aufknöpfte, ganz langsam, den Gürtel abschnallte, die Hose heruntergleiten ließ. Die Unterhose auszog. L blinzelte durch die Augenschlitze.
L sah: einen Schwanz.
Er war da.
Er setzte sich auf die Bettkante und schlug das Laken zurück. L kniff die Augenlieder fest zusammen. Er zog L die Unterhose aus, streifte das durchgeschwitzte T-Shirt über Ls Kopf. Dann legte er sich auf Ls Bauch. Er legte Ls Beine auseinander, nahm seinen Schwanz und bewegte seine Hand schnell auf und ab. Er drückte seine Haut gegen die fremde, seine Haut wurde feucht, die fremde blieb trocken. Er stützte sich mit der anderen Hand ab, presste sein ganzes Gewicht gegen die fremde Öffnung, rutschte hinein, war in L.
Sie war da.
Jetzt konnte sie genauso gut die Augen öffnen. Dass sie schlief, glaubte er ihr sowieso nicht mehr. „Hallo Lena“, hauchte er ihr ins Ohr. Sie sagte: „Frank.“ „Sag jetzt nichts,“ sagte Frank und presste Lena eine Hand auf den Mund. „Meine armes, krankes Mäuschen.“ Lena schmeckte die klare Flüssigkeit, die durch seine Fingerritzen rann, von der sie einmal gehört hatte, dass sie Sehnsuchtstropfen genannt wird, die ihre Lippen verklebte. Frank bewegte sich langsam auf und ab. „Können wir still sein?“, fragte er nach einer Weile. Lena nickte. Er nahm die Hand von ihrem Mund, faste ihre Brüste. Seine Finger glitten über ihre Haut, die Nägel verhakten sich in ihre Brustwarzen. Sie stöhnte auf und drehte den Brustkorb zur Seite. „Nicht bewegen“, sagte Frank. Mit seinen Händen hielt er ihre Hüftknochen fest und drückte sie in die Matratze. „Sonst fühl' ich doch nichts.“
Lena hörte auf sich zu bewegen. Sie hörte auf zu schmecken. Die Augen fielen ihr zu. „Guck mich mal an!“, flüsterte Frank. Sie sah ihn an. Sie nahm sich vor, ihm fest in beide Augen zu schauen, doch sie war zu dicht vor ihren, sodass sie sich für eins entscheiden musste. So sah sie in sein rechtes Auge, in die braune Iris, durch das Schwarz der Pupille. Dahinter sah sie: sich selbst. Ein riesiger Kopf, zwei große Brüste, darunter wurde alles kleiner und verschwand. Dann sah Lena durch sich durch und sah nichts mehr.
Ein Mann, eine Frau.
Ihre Brustwarzen wurden steif und schmerzten. Sind die jetzt etwa erregt?, fragte sich Lena. Das kann doch nicht sein. Die sabotieren mich. Die gehören nicht mehr dazu! Auch das Trockene ihrer Ritze hatte sich in Feuchtes gewandelt. Ist das auch von mir?, fragte sie sich. Selbst schuld. Dann bin ich auch selbst schuld.
Als er das nächste Mal nach einer Brust griff, riss sie ab. Nicht schnell, nicht schmerzhaft. Langsam und einvernehmlich. Erst ein kleiner Riss, dann ein Spalt - plötzlich war sie weg. Das gleiche mit der anderen Brust. Es tat nicht weh, es floss kein Blut. Erst sah sie noch, wie er ihre Brüste weiter knetete, sich an ihnen festhielt, an ihnen nagte. Er merkt gar nicht, dass die ab sind, dachte Lena. Sie sah die roten Striemen, die seine Nägel hinterließen, die abgeschürfte Haut, aber sie fühlte nichts mehr. An ihrem Brustkorb, da, wo einst ihre Brüste gesessen hatten, klafften nun zwei riesige Löcher. Schwarz und ruhig lagen sie da, wie zwei tiefe Seen.
Ein stechender Schmerz durchzuckte Lena. Er kam von weit unten, weit innen. Sie schrie leise auf. „Gefällt dir das?“, fragte Frank. Am Ende der Ritze raspelte Lenas Haut ab, die Wunden klebten wieder zu, rissen wieder auf, klebten wieder zu. Der Schmerz wurde dumpf. Dann riss etwas unterhalb ihres Bauchnabels. Eine Spalte tat sich auf, auch hier, trennte von links nach rechts den Körper in oben und unten.
Dann hörte der Schmerz auf und das Raspeln hörte auf und das Kleben hörte auf.
Lena flog unter die Zimmerdecke und blieb an der oberen Ecke des Fensters hängen. Sauber war es hier an der gelackten Raufasertapete. Hell war es hier, an der sonnenbeschienen Wand. Ich kann fliegen, dachte Lena, das wusste ich schon einmal, aus all meinen Träumen, und vergesse es trotzdem immer wieder. Sie sah hinunter aufs Bett. Sah Franks nackten Po, der sich immer schneller auf und ab bewegte. Die Grübchen in den Pobacken, seine Schultermuskeln, den Nacken.
Unter ihm sah sie sich.
Und dann war es vorbei. Frank zog seinen Schwanz aus der Ritze, setzte sich auf, ging ins Bad.
Mit einem Ruck fiel Lena von der Decke aufs Bett. Lag da und lag da und konnte nicht denken. Und dachte: Eigentlich müsste ich mir jetzt meine Schuhe anziehen, aber dazu bräuchte ich erstmal Füße und die habe ich nicht. Eigentlich müsste ich auch meine Beine in die Hand nehmen und loslaufen, aber dafür bräuchte ich erstmal Hände und Beine. Ich könnte mich aber auch erstmal hinsetzen, einen Schluck Wasser trinken, aus dem Glas da auf dem Nachttisch, aber da ist kein Schoß, auf den ich mich setzen könnte, vor allem nicht mein eigener.
Der erste, der wieder auftauchte, weil er nass wurde, war der Schoß. Eine kalte, klebrige Flüssigkeit lief aus ihm heraus, floss in ihre Poritze. Suppte ins Bettlaken, zog ein in die Matratze. Schoß, dachte sie, dann bist du also meiner. Aber der Schoß lag ein bisschen schief und man konnte sich nicht mehr so einfach darauf setzen. Lena fiel auf die Seite.
Im Badezimmer klappte die Klobrille gegen den Spülkasten. Lena musste sich beeilen. Aber wonach suchen? Was finden? Es war ja nichts mehr da. Oder doch? Sie spürte die brennenden Schrammen. Das sind meine Brüste, dachte sie. Im Bad rauschte die Klospülung. Die Brüste lagen weit auseinander, viel zu weit: Die eine hing an der Wand, die andere lag am Fußende der Matratze. „Ok, Brüste“, sagte Lena. „Kommt her, eine nach der anderen.“
Die Klobrille schlug gegen das Keramik der Schüssel. Lena dachte, dass sie nun nicht mehr länger Zeit vergeuden könne, dass sie schneller vorankommen müsse. Sie fühlte ein Kribbeln in den Fingerspitzen und zog ihr T-Shirt unter sich hervor, das zwar nass war, aber groß genug, um als Beutel herzuhalten. Sie machte sich daran, ihre Körperteile zusammen zu suchen, sammelte ein, was sie finden konnte.
Zunächst fand sie: Den Po, die Oberschenkel-Innenseiten, die Hüftknochen, die Lippen. Diese Gliedmaßen waren einfach zu finden, denn sie waren nicht weit gekommen. Lagen alle noch auf dem Bett herum: Der Po versteckte sich hinter einer Falte in der Bettdecke, die Oberschenkel-Innenseiten waren zwischen Bettkasten und Wand gerutscht, die Lippen sogen sich ins Kissen, so als würden sich beide küssen. Lena nahm die Glieder auf und legte sie auf das T-Shirt.
Was schwieriger zu finden war: Augenschlitze, nasse Handflächen, Mundwinkel, Schweiß, Wangen, Tränen, Schläfen, Haarwurzeln. Schließlich entdeckte Lena die Tränen und den Schweiß, die sich in die Luft gehängt hatten. Die Wangen klebten an der Raufasertapete, die Augenschlitze starrten aus dem Fenster in das Fluten der Nachmittagssonne, die nassen Handflächen hatten sich auf dem Teppich zum Trocknen ausgelegt.
Was nicht mehr zu finden war: das Pochen der Arterien, das schlagende Herz.
Die Badezimmertür öffnete sich. Sie hatte keine Zeit mehr. Band die Füße hastig unter die Beine, wickelte die Oberschenkel notdürftig um die Hüftknochen, schmiss die Reste zusammen, knotete das T-Shirt und warf es sich über den schief aufgesteckten Rücken, ehe sie leise die Haustür aufdrückte und das Treppengelände hinunterrutschte.
Auf der Straße stehend atmete sie tief ein. Seit sie in der Stadt wohnte, hatte es nicht mehr nach Frühling gerochen. Die Wärme der Luft jedoch ließ sie ahnen, dass es irgendwo auf der Welt, an Orten wo es nachmittags Zwetschgenkuchen mit Sahne gab, wo die Wände den Duft von Holz ausströmten und alte Menschen dicke, graue Haarknoten am Hinterkopf trugen, dass es da irgendwo jetzt genau nach Frühling roch.
Sie humpelte zur U-Bahnstation und sah, ehe sie die Stufen hinunterging, noch einmal zum Balkon hinauf. Auf die Brüstung gestützt hing, schief und unvollkommen, mit einem verzogenen Gesicht: F.
Die Treppen in den U-Bahnschacht hinabzusteigen war beschwerlich ohne Zehen und Kniegelenke. Lena schwitzte. Auf der Hälfte der Treppe musste sie stehenbleiben und bekam einen Hustenanfall. Unten in der Station fuhr ihr die Kälte der Betonwände in die Knochen.
Die Bahn rauschte ein, Lena trat vorsichtig über den Spalt in den Waggon und setzte sich auf einen freien Platz. Sie wiegte den warmen T-Shirt-Beutel auf ihrem Schoß, betastete ihn vorsichtig, streichelte seine Wölbungen.
Ein Augenpaar gegenüber heftete seine Blicke auf die Höhe ihrer Brüste. Sie schaute an sich hinunter. Tatsächlich, da waren sie wieder. Waren nahe zusammengerückt, streckten sich durch, drückten ihre Warzen in den Pulli. Lena zog ihre Schultern nach vorne und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Sie starrte dem Mann auf den Schritt, merkte aber schnell, dass sie sich nicht nach Angriff fühlte und mehr noch, dass es vielleicht gar kein Angriff war, sondern viel wahrscheinlicher, dass es ihm gefiel. Sie stand auf und stellte sich an die Tür. Durch das Spiegelbild der Scheibe schaute sie zu ihm, er starrte auf ihren Po. Der ist also auch wieder da, dachte Lena. Sie beschloss, an der nächsten Station auszusteigen und den verbleibenden Weg zu Fuß zu gehen.
Im Park setzte sie sich ins Gras. Das T-Shirt-Säcklein stellte sie neben sich ab. Lange betrachtete sie die unförmigen Beulen hinter dem Stoff. Dann knotete sie den Beutel vorsichtig auf.
Als erstes holte sie feine Haarbüschel heraus, überlegte kurz und klebte sie sich auf die Augenlieder. Dann kamen ein paar Zehen zum Vorschein, die nach einigem Zögern zwischen den Fingern Platz fanden, zuerst die kleinen, dann die großen. Die Armkehlen verteilten sich gleichmäßig auf beide Füße, Leberflecke versammelten sich in einem Kreis um den Bauchnabel. Schließlich griff die Hand einen Schwanz aus dem Beutel und schloss ihn ans Schambein an. Von einem leichten Wind getragen raschelte ein erleichtertes Kichern durch die Bäume.
Nach und nach wurde das T-Shirt leerer, das Gras voller. Als es nichts mehr zu verteilen gab, streckte sich der Körper der Länge nach aus. Halme streichelten seine Risse, die Sonne schweißte seine Wunden zusammen. Dann hörte L ein Herz pochen.